Stadt schreiben. Urbanität und Literatur von 1831 bis 1931

Geschichten, Bilder und Metaphern der Stadt – Bedeutungsüberschuss als schöpferisches Potential, No 6

Phaidros: Du aber, Sokrates, bist doch ein ganz wunderlicher Kauz. Denn genau wie du sagst: einem Fremden, der sich hier führen lassen muss, gleichst du, und nicht einem Einheimischen. So wenig kommst du über die Grenzen des Stadtgebiets hinaus; ja nicht einmal über die Mauer scheinst du mir überhaupt hinauszugehen.

Sokrates: Halte mir das zu gut, mein Bester. Ich bin eben lernbegierig. Die Örtlichkeiten nun und die Bäume wollen mich nicht lehren, dagegen die Menschen in der Stadt.1

Fast scheint es, als liesse sich aus der eingangs zitierten Stelle aus Platons Dialog Phaidros bereits bei den alten Griechen eine Lobrede auf die Stadt festmachen. Wer Austausch sucht, ideelle Bereicherung, Kontakt mit anderen Menschen, der sei in der Stadt besser bedient als ausserhalb, so der Text. Schon im antiken Athen, so könnte man vorschnell folgern, wurde also Urbanität als etwas Positives und Bereicherndes angesehen. Dabei gälte es aber zu bedenken, dass der antike Stadtbegriff mit einem heutigen fast gar nichts mehr zu tun hat, dass also die Übertragbarkeit dieser Sokrates in den Mund gelegten Aussagen gut bedacht werden sollte. Denn eine antike Stadt hatte klare Grenzen, in mehreren Hinsichten: Sie war geschlossen, sie war exklusiv, sie war mit ökonomischer und politischer Macht über das umliegende Land ausgestattet – sie war schlicht ein Herrschaftszentrum und damit weit entfernt von dem, was wir heute unter einer Stadt und ihren inhärenten Gegensätzlichkeiten verstehen. Ungebremste Wachstums- oder Schrumpfungsprozesse waren ihr ebenso fremd wie ausfransende Grenzen zum Umland oder die Koexistenz von grossen Gegensätzem zwischen arm und reich, alt und neu, prunkvoll und verwahrlost, gestaltet und gewachsen.

Kurz: Die antike Stadt ist mit einer heutigen in keiner Weise zu vergleichen. Das Bild der antiken Polis, die auch über eine Art von »Demokratie« verfügte (Stimmrechte für männliche Vertreter von Bürgerfamilien), blieb bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die Blaupause für ein Stadtverständnis vorindustrieller und vorrevolutionärer Prägung. So etwa auch im »Limmat-Athen« des 18. Jahrhunderts, wo Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger den Traum einer freien Ästhetik träumten, die sie gegen die starre Schönheitslehre des deutschen Literaturpapstes Johann Christoph Gottsched zu etablieren trachteten.

Die Stadt aber, wie wir sie heute kennen, ist ein Kind des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Voraussetzungen für ihre Entstehung waren vielgestaltig und betrafen weit mehr als nur die Fragen der Urbanität: Wissenschaftliche Entdeckungen, zuvorderst diejenige der mechanischen Kraftübertragung und der Krafterzeugung mittels Elektrizität, die Arbeitsteilung in einer manufakturiellen und später industriellen Produktionsweise, die Einführung der Lohnarbeit, die durch die französische Revolution ausgelösten politischen Beteiligungsprozesse der unteren Schichten der Gesellschaft, all dies führte zu einer europaweiten Veränderung der Gesellschaft in einem sehr grundlegenden Masse. Missernten führten ebenso wie die Verheissungen auf ein geregeltes Einkommen durch Fabrikarbeit zu Landflucht, zu ungebremsten Binnenmigrationsströmen und damit zu einem Wachstum der Vorstädte und Peripherien, 1845 unübertrefflich geschildert von Friedrich Engels in seinem Werk »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« (Leipzig, Otto Wigand), einem heute zu Recht als frühen Klassiker der Stadtsoziologie bezeichneten Standardwerk.

abb_1_engels_lage_1 Einen weitgehend vergessenen Vorläufer hatte Engels ausgerechnet in der Schweiz, wo es zwar kaum grössere Städte gab, umso mehr aber Landflucht. 1820 erschien im Verlag »Huber und Comgagnie« in St. Gallen die Schrift »Meine Armenreisen in den Kanton Glarus und in die Umgebungen der Stadt St. Gallen in den Jahren 1816 und 1817 nebst einer Darstellung, wie es den Armen des gesammten Vaterlandes im Jahr 1817 erging. Ein Beitrag zur Charakteristik unserer Zeit. In Abendunterhaltungen für die Jugend, jedoch für Jedermann, von P[eter] Scheitlin, Professor«, eine Sozialreportage über die Folgen der schlechten Versorgungslage der ländlichen Prekarisierten, ihre Wohn- und Hygiene-Verhältnisse und Familiensituationen, oder einfach über Hunger, Armut und Elend der helvetischen Modernisierungsverlierer.

abb_2_scheitlin

Scheitlin verstand sein Werk nicht als Literatur, sondern als politisch-aufklärerische Praxis eines aufgeklärten Theologen, Lehrers und Jounalisten. Lesenswert bleibt das Werk, genauso wie dasjenige Engels’, als Zeugnis eines derartigen und derart frühen Engagements zwischen aufklärerischer Praxis und gesellschaftlicher Reflexion alleweil. Denn es sollte noch mehr als ein halbes Jahrhundert dauern, bevor überhaupt eine »Wissenschaft von der Gesellschaft« mit einem Autonomie-Anspruch ihre Stimme zu erheben begann. Erst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert begannen Theoretiker wie Emile Durkheim, Georg Simmel oder Max Weber das theoretische Feld der Gesellschaftswissenschaft zu bereiten, und untrennbar damit verbunden war von Beginn an die Untersuchung der zeitgenössischen Stadt als gesellschaftliches Phänomen (Georg Simmel: »Die Grossstädte und das Geistesleben«, 1903. [In: »Die Grossstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung«. Jahrbuch der Gehe-Stiftung Dresden, hrsg. von Th. Petermann, Band 9, 1903, S. 185–206); Max Weber: »Die Stadt«, In: »Wirtschaft und Gesellschaft«, 2. Teilband, S. 514 ff. (Tübingen, Mohr, 1921).]

Weitaus früher haben sich die Künste mit dem Phänomen der gegenwärtigen Stadt auseinandergesetzt. Dies soll hier exemplarisch am Beispiel der Literatur gezeigt werden. Die Auswahl der Werke erhebt keinerlei Ansprüche auf Vollständigkeit oder Repräsentativität, sie spiegelt lediglich subjektive Präferenzen des Verfassers. Die frühesten Beispiele stammen aus den 1830er-Jahren, und seither ist die Stadt ein nicht mehr wegzudenkendes Thema in der Literatur – aus den unterschiedlichsten Perspektiven.

1831 erschien bei Charles Gosselin in Paris ein Buch mit dem Titel »Notre Dame de Paris«. Es war möglicherweise nicht das erste Mal, aber es ist doch bezeichnend, dass ein Gebäude die titelgebende Figur eines Romans ist. Die Titelvignette zeigt eine junge Frau, die einem Gefesselten ein Getränk einflösst: Esmeralda erbarmt sich und lindert den Durst des an den Schandpfahl gefesselten Quasimodo. Obwohl die Handlung des Buches im Mittelalter spielt, lohnt es sich, Victor Hugos Blick auf Paris aus der damaligen Gegenwart zu betrachten. Das Werk ist unter anderem deswegen so erfolgreich und anschlussfähig, weil es viele Handlungsstränge integriert und zahlreiche einander widerstrebende Akteure zu bündeln vermag. Eine derartige Grösse und Dichte bei gleichzeitiger maximaler Heterogenität ist das, was Louis Wirth hundert Jahre später als Definitionskriterium für Urbanität postulieren wird [Louis Wirth: »Urbanism as a Way of Life«. In: American Journal of Sociology, Vol. XLIV, July 1938, No. 1, S. 1–24]. Zugleich gibt es – immer wieder – den Blick von oben, von den Zinnen der Kathedrale, auf das städtische Paris, den Blick des einsamen, unmenschlich aussehenden aber menschlich fühlenden Quasimodo auf all das, was er begehrt und verachtet, was ihm aus der Nähe zu erleben nicht vergönnt ist.

abb_3_Hugo_Notre_Dame_de_Paris

Knapp zehn Jahre später, 1842/43, schuf Eugène Sue mit »Les Mystères de Paris« nicht nur einen der erfolgreichsten Romane der französischen Literaturgeschichte überhaupt, er begründete damit gleichzeitig auch ein neues Genre: dasjenige des Groschenromans. Zwischen Juni 1842 und September 1843 erschienen in der Tageszeitung »Le Journal des Débats« mehrmals wöchentlich neue Episoden aus dem Leben der Pariser Unterschicht, die vom harten Alltag zwischen Hunger, Armut und Elend geplagt, aber auch von hinterhältigen Adeligen und Bürgerlichen gepiesackt werden. Die Serie war derart erfolgreich, dass sie alsbald in Form von eigenständig publizierten Heften verkauft wurde. Es ist wohl nicht falsch, »Les Mystères de Paris« als »die Mutter aller Groschenromane« zu bezeichnen und es wäre interessant, einmal zu untersuchen, wie partizipativ die Abfassung der Fortsetzungen tatsächlich erfolgte: Vieles an Anregungen aus der Leserschaft sei da eingeflossen und habe dazu beigetragen, dass die Episoden so lebendig und glaubhaft blieben. Ob sich der aus einer wohlhabenden Arztfamilie stammende Sue aus diesem Grund zu einem Sozialisten und engagierten Schriftsteller wandelte, ist nicht bekannt.

abb_4_les_mysteeres_de_paris_par_eugee130807

 

abb_4_SueMysteriesParis

Ganz im Gegensatz zu Eugène Sue war Charles Dickens alles in die Wiege gelegt, auf dass er nie Fragen zu Authentizität und eigener Anschauung beantworten musste. Seine Familie war arm und als sein Vater wegen Schulden ins Gefängnis musste, war er als ältester Knabe von acht Kindern derjenige, der ausserhalb des Gefängnisses leben durfte, der aber als Zwölfjähriger für »seine« Familie zu sorgen und Geld zu verdienen hatte. Er begann als Journalist zu arbeiten und veröffentlichte ab 1836 in monatlichen Fortsetzungen die »Pickwick Papers«. 1838 erschien »Oliver Twist, or, the Parish Boy’s Progress« unter dem Pseudonym »Boz«, der Rest ist Geschichte. Was man aus Charles Dickens’ Werken, neben den bereits erwähnten namentlich auch aus dem stark autobiografisch gefärbten »David Copperfield« über London in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lernen kann, ist unglaublich dicht und reich. Selten hat eigene Anschauung, präzise Beobachtung und Sensibilität für soziale Differenzen zu lebendigeren Bildern geführt. Auch wenn Dickens seine Werke nicht als »Bilder einer Stadt« verstand, sondern eher als Bilder von Menschen und ihren Lebensgeschichten, so ist doch all das, was er über London und insbesondere dessen ärmere Viertel erzählt, von ungeheurer Wucht und Präzision – dichte Beschreibung im besten Sinn des Wortes.

 

abb_5_Dickens_Oliver_Twist

Auf ähnliche Weise ethnographisch genau, fast auch ein bisschen auto-ethnographisch, hebt der nächste, zwei Jahre nach »Oliver Twist« veröffentlichte Text an: »Vor noch nicht langer Zeit, bei Anbruch eines Abends im Herbste, sass ich am grossen Bogenfester des Kaffeehauses D––– in London. Einige Monate lang hatte ich mich bei schlechter Gesundheit befunden, doch war ich nun wieder auf dem Wege der Besserung, und indessen mir die Kräfte zurückkehrten, fand ich mich in einer jener glückhaften Stimmungen, welche so gänzlich das Gegenteil von Ennui sind, … Stimmungen wachester Sinnenfreude, wo der Schleier vom geistigen Auge fällt, […] und der Intellekt sich mächtig über seinen Alltag erhebt. […] Schon das blosse Atmen war eine Lust; und selbst den ausgesprochenen Quellen des Leides wusste ich Freudigkeiten abzugewinnen. Ich empfand ein gelassenes, doch rege-waches Interesse an allen Dingen um mich her. Eine Zigarre im Munde und eine Zeitung auf dem Schoss, so hatte ich mich über den grössern Teil des Nachmittages hin vergnügt, hatte ein bisschen in den Anzeigen gestöbert, dann wieder die bunt gemengselte Gesellschaft im Raume gemustert und schliesslich durch die rauchgetrübten Scheiben auf die Strasse geguckt. In dieser Strasse spielt sich der Hauptverkehr der City ab, und den ganzen Tag schon war sie überaus belebt gewesen. Doch als die Dunkelheit hereinbrach, nahm das Gedränge jeden Augenblick zu; und um die Zeit, da die Laternen in vollem Lichte aufflammten, rauschte die Bevölkerung in pausenloser dichter Doppelflut an der Türe vorbei. Zu dieser besonderen Stunde hatte ich mich noch nie zuvor in ähnlicher Situation befunden, und das tumultuosende Meer von Menschenköpfen erfüllte mein Gemüt daher mit köstlicher, noch nie gekannter Bewegung und Erregung. Bald schon erlosch meine Teilnahme für die Vorgänge im Innern des Gasthauses, und ich versank in der Betrachtung des Schauspiels draussen.«

So schildert der Amerikaner Edgar Allan Poe in »The Man of the Crowd« den Blick des Beobachters auf die von Gaslaternen erleuchteten Londoner Strassen [zitiert nach der deutschen Werkausgabe in vier Bänden, Olten, Walter, 1967, Bd. 2, S. 706. Übersetzt von Arno Schmidt und Hans Wollschläger]. Kurz danach verlässt der namenlos bleibende Erzähler das Restaurant und verfolgt einen alten Mann, der ihm ob seines Verhaltens aufgefallen ist und der scheinbar ziellos durch die Stadt wandert. Nach zwei Tagen unablässigen Verfolgen gibt der Erzähler schliesslich auf und gesteht sich ein, dass sich ihm nichts über die Ziele des alten Stadtwanderers erschlossen habe, ausser dass er immer Teil der Menschenmasse sei – ein »Massenmensch«. Erschienen ist dieses »ethno-fiktionale Protokoll avant la lettre« im Jahr 1840 im »Burtons Magazine«, wo Poe zu dieser Zeit redaktioneller Mitarbeiter und regelmässiger Autor war. Hier leuchten zwei Phänomene auf, die für den Diskurs über die Stadt bald wichtig werden: einerseits die mit dem französichen Begriff des »ennui« gefasste »Blasiertheit« des Stadtbewohners, auf die sich sechzig Jahre später Georg Simmel in seinem Text »Die Grossstadt und das Geistesleben« ausführlich beziehen und sie als erster nicht mehr negativ, sondern positiv würdigen sollte; andererseits die Idee des Flaneurs, der sich der Hektik und den Zwängen des beschleunigten Grossstadtlebens entzieht, sich distanziert und die beschriebene Mischung von Aufmerksamkeit und Langsamkeit findet, die es ihm erlaubt, die Stadt wahrzunehmen, ja, sie zu lesen, dem sich aber eine Sinnhaftigkeit von Stadt dennoch nicht zu erschliessen vermag.

Abb_6_Poe_Burtons_Magazine 1840

Fällt der Begriff »ennui« und der Name Edgar Allan Poe, so ist es ein kurzer Weg zum Poe-Übersetzer Charles Baudelaire. Als 36-Jähriger veröffentlichte er 1857 sein Hauptwerk »Les Fleurs du Mal«, nachdem er zuvor mehrere Erzählungen Poes ins Französische übertragen hatte. »Les Fleurs du Mal« ist ein durchkomponierter Gedichtband, bestehend aus sechs Abteilungen, deren zweite die Überschrift »Tableaux Parisiens« trägt. Nicht nur der bereits erwähnte »ennui«, auch ein ungeschöntes Paris, dessen Schmutz, Lärm, Gestank, die Hässlichkeiten, das Zerfallende und das Morbide sind Themen, die nicht auf-, aber doch eindringlich in den Gedichten zum Ausdruck gebracht werden.

 

Abb_7_Baudelaire_Tableaux_parisiens,_1917

Les sept Vieillards
(A Victor Hugo)

Fourmillante cité, cité pleine de rêves,

Où le spectre en plein jour raccroche le passant!

Les mystères partout coules commes des sèves

Dans les canaux etroits du colosse puissant

 

Un matin, cependant que dans la triste rue

Les maisons, dont la brume allongeait la hauteur

simulaient les deux quais d’une rivière accrue,

Et que, décor semblable à l’âme de l’acteur

 

Un brouillard sale et jaune inondait tout l’espace,

Je suivais, roidissant mes nerfs comme un héros

Et discutant avec mon âme déjà lasse,

Le faubourg secoué par les lourds tombereaux.

 

Tout à coup, un vielliard dont les guenilles jaunes

Imitaient la couleur de ce ciel pluvieux

Et dont l’aspect aurait fait pleuvoir les aumônes,

Sans la méchanceté qui luisait dans ses yeux.

[…]

Baudelaire gilt heute als einer der Begründer der literarischen Moderne, in Frankreich ist sein Einfluss auf Symbolismus, Expressionismus oder Surrealismus (Arthur Rimbaud, Paul Verlaine oder Stéphane Mallarmé) kaum zu unterschätzen. Und auf eine besondere Art wirkte er nach Deutschland, wenn auch mit einiger Verzögerung: 1923 erschien in Heidelberg bei Richard Weissbach der »fünfte Druck des Argonautenkreises«: »Tableaux Parisiens. Deutsche Übertragung mit einem Vorwort zur Aufgabe des Übersetzers von Walter Benjamin«. Benjamins übersetzerisches Werk ist reich, neben der Teil-Übersetzung von Prousts »Recherche« (gemeinsam mit Franz Hessel) ist die Baudelaire-Übertragung sicher der für Benjamin wichtigste übersetzte Text gewesen. Und er war auch von grossem Gewicht in seiner Publikationsliste, denn Benjamins übersetzerisches Werk ist zu seinen Lebzeiten fast gleich gewichtig wie sein publiziertes Werk als Autor. In Buchform veröffentlichte er neben seiner Dissertation (»Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik«, 1920) und seiner zurückgezogenen Habilitationsschrift (»Der Ursprung des deutschen Trauerspiels«, 1928) lediglich zwei Titel, davon eines unter Pseudonym (»Deutsche Menschen«, Pseudonym Detlef Holz, 1936). Über das andere, »Einbahnstrasse«, schrieb sein Freund und Proust-Co-Übersetzer Franz Hessel bereits 1928, im Jahr des Erscheinens: »Dem Philosophen, der hier auf die Strasse geht, ist Erkenntnis kein Abseits, keine Einsamkeit, kein Verzicht. Aus seinen Worten spricht dauernde Einladung, mitzutun, mitzudenken. […] Er liest seine Politeia vom Feuermelder, weissagt aus einem Kaiserpanorama die Inflation, […]. Wir lernen Weltgeschichte an Briefmarken, Geographie im Frachtdampfer, bei der Kartenschlägerin Ethik, Ethnologie in der Kinderstube. An Sterbebetten begreifen wir Flaggensignale. […] Sasha Stone, unser bester Techniker der Photomontage, hat den Einband gemacht: Anschauungsbilder zu einem Lehrbuch, das uns Lust macht, in die Sexta des Lebens zu gehen.« [zitiert nach der Hessel-Werkausgabe, hrsg. von Hartmut Voller und Bernd Witte, Oldenburg 1999, Bd. 5, S. 137]. »Einbahnstrasse« ist kein »Buch einer Stadt« oder »Buch über eine Stadt«. Es ist eine Sammlung von Betrachtungen, Beobachtungen, Feststellungen in Aphorismenform, die aber ohne »Stadt« nicht zu denken wäre, die Stadt gleichsam atmet und braucht, als Nährboden, als Bedingung, um überhaupt zeitgenössisch denken und schreiben zu können. So zeitgenössisch wie der Einband und die gesamte Gestaltung des schmalen, lediglich 84 Seiten umfassenden Bändchens.

Abb_8_Benjamin_Walter_Einbahnstrasse

Nur am Rande sei angemerkt: Natürlich beginnt die »Literaturgeschichte der Stadt« in Deutschland nicht erst mit Walter Benjamin. So sei hier exemplarisch angeführt: Dora Dunckers Roman »Grossstadt«, Berlin 1900 Abb_9_Duncker_Grossstadt und der Gedichtband »Grossstadtlyrik«, hrsg. von Heinz Möller, Leipzig, 1903, mit Beiträgen von Ferdinand Avenarius, Richard Dehmel, Hugo von Hofmannsthal, Christian Morgenstern u.va.Abb_10_Grossstadtlyrik

Die Bezeichnung »Der Roman einer Stadt« ist der vom Autor gesetzte Untertitel eines ganz anderes Werkes, dessen deutsche Übersetzung ein Jahr zuvor, 1927, ebenfalls von Franz Hessel besprochen wurde: »Manhattan Transfer ist ein Buch, das bei der ersten Lektüre durch seine Fülle überwältigt und verwirrt wie ein Fiebertraum und dann beim Wiederlesen – man kann es oft wieder lesen und dann auf jeder Seite aufschlagen – immer mehr entdecken lässt von dem seltsamen Lebewesen New York.« Der Verzicht auf eine durchgängige Handlung, das mosaikartige Abbilden von kleinen Einzelteilen, eine sichtlich vom Film inspirierte Montage-Technik – all dies machte den Roman einzigartig. John Dos Passos, Amerikaner mit spanischen Wurzeln, hatte den Roman 1925 im Alter von 29 Jahren veröffentlicht und darin erstmals die Stadt zur Protagonistin eines literarischen Werks gemacht. »Hauptperson seines [Dos Passos’] Werkes ist die Stadt selbst; er erzählt 25 Jahre New Yorker Stadt- und Weltgeschichte indem er von Kellnern, Grosskaufleuten, Schauspierinnen, Näherinnen, Journalisten, Strolchen, Schmugglern, von Tätern und Träumern berichtet. Und diese 25 Jahre sind im rollenden Ablauf wie ein Tag. diese Stadt erlebt die Vorgänge in ihren Strassen und Häusern wie ein Organismus das, was in seinem Innern vorgeht, sie spielt mit ihren Bewohnern wie ein Kind mit seinem Spielzeug, macht sie zu Puppen, die sie streichelt und zerbricht. Die Strasse dringt mit ihrem kollektiven Leben in alle Schicksale ein.« So noch einmal Hessel.

 

Abb_11_Dos_Passos

Die verstörende Intensität und Vielschichtigkeit des Buches wie der Stadt, der Sog der Geschichten, der alle Sinne ansprechende Text (Gerüche und Geräusche spielen eine tragenden Rolle), all dies hat Dos Passos weder allein noch als Erster vorgeführt, aber auf einem ungemein überzeugenden Niveau, von der Machart her vergleichbar allenfalls mit Andrej Belyjs »St. Petersburg« (1916) oder mit James Joyces »Ulysses« (1922), wobei diese beiden aber durchaus noch andere Erzähl-Absichten verfolgen als dasjenige der Abbildung des »Bewusstseinsstroms einer Stadt«. Auf Analogien in der Musik (etwa Edgard Varèse: »Amériques« (1921) oder Walter Ruttmann: »Berlin. Symphonie einer Grossstadt« (1927) kann hier nicht eingegangen werden, sie liegen aber auf der Hand.

Hingegen darf ein Werk nicht unerwähnt bleiben, das 1929, ein Jahr nach Walter Benjamins Einbahnstrasse, im Fischer Verlag erschien: Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz«. »Die Geschichte vom Franz Biberkopf«, so der sprechende Untertitel, ist zwar ein Roman mit Handlung, Protagonisten, Aufbau etc., aber ähnlich wie bei Dos Passos tritt die Stadt quasi als Akteur auf, beeinflusst alles. Das zeigt sich gleich am Anfang des Buches, als Franz Biberkopf, nach mehrjähriger Strafe aus dem Gefängnis Berlin Tegel entlassen, wieder einen Bezug zur Stadt aufbauen sollte, vor der ihn die Mauern der Institution geschützt hatten: »Man setzte ihn wieder aus. Drin sassen die andern, tischlerten, lackierten, sortierten, klebten, hatten noch zwei, drei, fünf Jahre. Er stand an der Haltestelle. Die Strafe begann. Er schüttelte sich, schluckte. Er trat sich auf den Fuss. Dann nahm er einen Anlauf und sass in der Elektrischen. Mitten unter den Leuten. Los. […] Er drehte den Kopf zurück nach der roten Mauer, aber die Elektrische sauste mit ihm auf den Schienen weg, dann stand nur noch sein Kopf in der Richtung des Gefängnisses. Der Wagen machte eine Biegung, Bäume, Häuser traten dazwischen. Lebhafte Strassen tauchten auf, Leute stiegen ein und aus. In ihm schrie es entsetzt: Achtung, Achtung, es geht los. […] Er stieg unbeachtet aus dem Wagen, war unter Menschen. Was war denn? Nichts. Haltung, ausgehungertes Schwein, reiss dich zusammen, kriegst meine Faust zu riechen. Gewimmel, welch Gewimmel. Wie sich das bewegte.» Durch den ganzen Roman hindurch wird die Stadt Franz Biberkopf peinigen und er wird, trotz zahlreichen und ehrenhaften Versuchen, an sich und an ihr scheitern – bis zu Tod und Wiedergeburt. Der Linken war das Buch ein Greuel (weil eine »proletarische« oder »agitatorische« Perspektive überhaupt keine Rolle spielt), aber auch Walter Benjamin sah darin einen letztlich spätbürgerlichen Reflex auf gesellschaftliche und urbanistische Entwicklungen, die von dieser Warte aus nur als Niedergang wahrgenommen werden konnten [vgl. seine Rezension »Krisis des Romans. Zu Döblins Berlin Alexanderplatz«. In: Gesammelte Schriften. Band III, Frankfurt am Main 1972, S. 263]. Trotz dieser (und weiterer ähnlicher) kritischer Stimmen war »Berlin Alexanderplatz« überaus erfolgreich, verkaufte sich vor Kriegsbeginn mehr als 50’000 mal, wurde mehrfach verfilmt und gilt bis heute als wichtigster Beitrag zur Stadtliteratur aus Deutschland.

Im selben Jahr wie »Die Geschichte vom Franz Biberkopf« erschien ein weitaus erfolgloseres Bändchen, welches aber die Wiedergeburt einer Stadt-Figur einläutete, die bis heute anhält: »Spazieren in Berlin. Ein Lehrbuch der Kunst in Berlin spazieren zu gehen. Ganz nah dem Zauber der Stadt von dem sie selbst kaum weiss. Ein Bilderbuch in Worten«. Das Büchlein erschien im nicht gerade bekannten »Verlag Dr. Hans Epstein«, der von 1927 bis zum frühen Tod des Verlagsgründers im Jahr 1932 nicht mehr als ein gutes Dutzend Titel veröffentlichte, vorwiegend im Bereich der Kulturgeschichte, insbesondere Bildbände von europäischen Städten. Der Autor war der bereits als Rezensent erwähnte Franz Hessel. Walter Benjamin, dessen »Einbahnstrasse« ja von Hessel ein Jahr zuvor rezensiert worden war, revanchiert sich nun seinerseits mit der Besprechung, die er mit »Die Wiederkehr des Flaneurs« betitelte. Auf diese Würdigung ist auch der nicht von Hessel selbst stammende, aber heute gängige Titel des Buches »Ein Flaneur in Berlin« zurückzuführen.

Abb_13_Hessel_Spazieren_in_Berlin

»Und wenn er [Hessel] sich nun aufmacht und durch die Stadt geht, so kennt er nicht den aufgeregten Impressionismus, mit dem so oft der Beschreibende seinen Gegenstand antritt. Denn Hessel beschreibt nicht, er erzählt. Mehr, er erzählt wieder, was er gehört hat. »Spazieren in Berlin« ist ein Echo von dem, was die Stadt dem Kinde von früh auf erzählte, Ein ganz und gar episches Buch, ein Memorieren im Schlendern, ein Buch, für das Erinnerung nicht die Quelle, sondern die Muse war. […] Der Flaneur ist der Priester des genius loci. Dieser unscheinbare Passant mit der Priesterwürde und dem Spürsinn des Detektivs – es ist um seine leise Allwissenheit etwas wie um Chestertons Pater Brown, diesen Meister der Kriminalistik. […] Baudelaire hat das grausame Wort von der Stadt, die schneller als Menschenherz sich wandle, gesprochen. Hessels Buch ist voll tröstlicher Abschiedsformeln für ihre Bewohner.« [zitiert nach Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. III, Frankfurt am Main, 1972, S. 194ff]

Die leise Melancholie, die in den Hesselschen Stadtbeobachtungen ebenso wie in Benjamins Betrachtungen liegt, erscheint uns heute als ein Ahnen des sich anbahnenden Grauens, das bald Europa und fast die gesamte Welt überziehen sollte. 1929 war ja nicht nur ein künstlerisch-literarisch reiches Jahr, das Jahr etwa, in dem Georges Bataille zusammen mit Michel Leiris und Carl Einstein in Paris die ersten Nummern der Zeitschrift »Documents« herausgab, oder das Jahr, in dem Bruno Taut die »Neue Baukunst in Europa und den USA« und Le Corbusier den »Städtebau« veröffentlichten. Am 25. Oktober 1929 erfolgte der grosse Zusammenbruch, der »Black Friday«, das Ende der »Roaring Twenties«, der sehr realökonomische Vorbote des späteren politischen Zusammenbruchs. Als letzter Vorkriegszeuge sei hier noch der Lyrik-Band »Um uns die Stadt. Eine Anthologie neuer Grossstadtdichtung«, herausgegeben von Robert Seitz und Heinz Zucker aus dem Jahr 1931 angeführt.

Abb_14_Um_uns_die_Stadt

Unter den zahlreichen Beiträgen sei abschliessend exemplarisch derjenige des notorisch unterschätzten Paul Zech vorgestellt:

Liebesballade im Regen

 

Auf den Strassen, zwischen den Schienensträngen,

glitzerte Waser. Und manchmal spritzte es unter den Bahnen

silbern empor bis zu den Fussgängerwegen.

Und die jungen Bäume dort liessen Fahnen

aus maisgrüner Seide so traurig herunter hängen

im Regen

 

Unter dem Glasdach einer verwitterten Kinoreklame

habe ich lange nach dem letzten Nachtauto gefroren.

Und da kamst Du mir grade gelegen:

so knabenhaft schmal in den Hüften und wie geboren

für meine Gefühle. Denn ausser Dir stand keine Dame

im Regen.

 

Und als wir uns ansahn die kurzen Sekunden

und garnicht mehr frugen, wie einer den anderen fände,

da kam uns das Blut schon auf halbem Wege entgegen

und ich küsste unter dem Schirm die die zitternden Hände

und habe zuletzt auch dein Herz gefunden

im Regen.

 

Für Dein Herz … da habe ich gleich ein Gedicht geschrieben,

denn wir sassen wortlos beglückt an den dunklen Tischen

in einem Café. Und aus den tropisch durchglühten Gehegen

der Geige begann jetzt Dein lüsterner Atem zu zischen,

bis ich dich mitnahm. Sonst wärst du alleine geblieben

im Regen.

 

In dieser Nacht aber ist alles ganz anders verlaufen,

wie ich es mir ausgedacht hatte in meinen Gefühlen.

Und als ich beschämt Dir was schenkte, da sagtest du lächelnd: weswegen?

Und liessest auf meinen Lippen nur einen kühlen

Geschmack Deiner Armut zurück. den wird sich kein anderer mehr kaufen

im Regen.

 

Für das zweite, noch nicht abgeschlossene Jahrhundert der Stadt-Literatur bräuchte es – trotz Subjektivität und Mut zur Auslassung – mehr Platz, mehr Zeit, längeren Atem und vielleicht noch etwas Distanz. Paul Wührs »Gegenmünchen« wäre ebenso zentral zu behandeln wie Hubert Fichtes »Palette« oder Rolf Dieter Brinkmanns »Rom. Blicke«, es gälte, differenziert auf aussereruropäische Literaturen zu schauen, zunehmend auch auf neue Genres, andere Medien (Graphic Novel, Online-Publikationen etc. etc.). Und es gälte im traditionellen Feld der europäisch-amerikanischen Literatur insbesondere das Genre der Kriminalliteratur in den Blick zu nehmen, dem wir zentrale Auseinandersetzungen mit der Stadt verdanken. Was wüssten wir von Paris ohne Georges Simenon oder Léo Malet, was von Barcelona ohne Manuel Vázquez Montalbán, was von Stockholm ohne Maj Sjöwall und Per Wahlöö, was von New York ohne Jerome Charyn und Ernest Tidyman, was von Wien ohne Helmut Zenker? Nicht nichts, aber viel zu wenig.

  1.  Phaidros V.230. Platons Dialog Phaidros. Übersetzt, erläutert und mit ausführlichem Register versehen von Constantin Ritter. Leipzig, Felix Meiner, 1922, S. 34
Verschlagwortet mitGeschichten, Bilder und Metaphern der Stadt – Bedeutungsüberschuss als schöpferisches Potential, No 6

Über Basil Rogger

Basil Rogger (*1964), Studium der Philosophie, Psychologie und Pädagogik an den Universitäten von Bern und Zürich (lic. phil. I). 1991-2000 tätig in Forschungsprojekten des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung. 1998-2000 Mitglied des Research Department des Gottlieb Duttweiler Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft. 2000–2015 tätig für Lucerne Festival, 2006-09 als Redaktionsleiter, 2009–2015 als Leiter Brand & Publications. Seit 2000 selbständig als Berater, Forscher, Herausgeber, Texter und Ausstellungsmacher an der Schnittstelle von Kultur und Wirtschaft. Seit 2003 Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste, 2004–2007 im Leitungsteam des Studienschwerpunkts Style & Design im Departement Design an der Zürcher Hochschule der Künste. Seit 2008 im Kernteam der Vertiefung Publizieren & Vermitteln des Master of Arts in Art Education im Departement Kulturanalysen und Vermittlung. Seit 2009 im Kernteam des Master of Arts in Transdisziplinarität im Departement Kulturanalysen und Vermittlung.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.