Wissensarchitektur: Über Statisten und Sinnhaftigkeit

In diesem Aufsatz möchten wir verdeutlichen, wie zur Zeit die Diskussion um Wissensarchitektur dafür verwendet wird, städtische Quartiere in spezifischer Weise neu zu strukturieren und Eingriffe zu legitimieren. Das kulturelle Leitmotiv von Bildung und Forschung tritt dabei zunehmend als Flagge auf dem Schiff der Stadterneuerung in Erscheinung.
Neben der Tatsache, dass Wissen immateriell ist, hilft es, sich zu vergegenwärtigen, dass es kein Zufall ist, dass genau in dem Moment, in dem Bildungsinstitutionen in zu entwickelnde Stadtquartiere verpflanzt werden, auch ein Diskurs über Wissensarchitektur geführt wird, der sich zunächst eher mit dem Bau von Universitätsgebäuden beschäftigt als mit der strukturellen Organisation von komplexen Systemen.  Wir möchten dies anhand von zwei Bauprojekten in der jüngeren Vergangenheit skizzieren: Sowohl im Entwicklungsquartier Zürich West mit dem Bau des Campus Toni-Areal wie in der Hamburger HafenCity mit der HafenCity Universität entstanden neue Hochschulstandorte.

Von Wissens- zu Investitionsarchitektur
In beiden Städten entstand die grundlegende Idee einer städtebaulichen Veränderung zu dem Zeitpunkt, als man erkannte, dass sich in einem zentrumsnahen Industrieareal durch eine Neu- bzw. Umnutzung mit urbaner Ausstrahlung Mehrwerte grösseren Stils erwirtschaften lassen. Selbstverständlich folgen die Grundbesitzer und Investoren den Pfaden der pekuniären Mehrwertschöpfungspotenziale, einem Wertschöpfungssystem, dass sich unter dem dualen Sinnhorizont lohnend – nichtlohnend konstituiert. Für die Investition ist es letztlich nicht entscheidend, wo sie stattfindet: Ob in Moskau, Taipeh oder in Zürich; Hauptsache sie verspricht Mehrwerte. Die unterschiedlichsten Risiken und Unwägbarkeiten können eingeschätzt werden – von möglichen Naturkapriolen, Mode- und Geschmackspräferenzen bis zum Risiko der Enteignung von Kapital. Um die neu geschaffene Immobilienzone attraktiv zu Inszenieren, schaffen namhafte Architekturbüros mit aufwendiger Formensprache und unter Verwendung wertiger Materialien städtische Dioramen. Interessanterweise verspricht die Ansiedlung einer Universität im jeweiligen Stadtentwicklungsgebiet eine attraktive Urbanisierungskatalysatorfunktion: Eine Maschine, die Stadt, wie wir sie kennen, erst werden lässt.
Die neuen Hochschulen können in ihrer globalen Vernetzung einerseits weit über die Stadtgrenzen hinaus strahlen, andererseits bringen sie junge Menschen ins sonst eher hochpreisoptimierte Quartier der vornehmlich männlichen Führungskräfte-Midager. So heißt es im Masterplan des größten Hamburger Stadtentwicklungprojektes aus dem Jahr 2006, dass »die Studierenden nicht primär in der HafenCity wohnen, sondern durch ihre Wohnortwahl außerhalb der HafenCity positiven Einfluss auf die Sozial- und Dienstleistungsstruktur benachbarter Quartiere ausüben und so zur sozialräumlichen Integration der HafenCity beitragen sollen«.
Selbstverständlich bieten grosse Neubauquartiere die Möglichkeit, erweiterte Raumbedürfnisse der Akademien aufzunehmen. Man kann aber die Gründung einer selbsternannten Universität für Baukunst und Metropolenentwicklung auch als eine gewisse Unverfrorenheit, die einer zum Hegemonialen neigenden Überheblichkeit entstammt, deuten:  »Wir exportieren nicht nur Schiffe, Stadien oder Philharmonien, wir nehmen auch gerne Bestellungen für ganze urbane Millieus entgegen, in Asien, Afrika, Südamerika«.
Dabei dienten doch Universitäten ursprünglich höheren Zielen. Zumindest wollen uns die Allegorien, die ihre Fassaden schmücken, dies weismachen: Uneigennützig und unablässig wurde hier zu Gunsten der Sozietät geforscht, gelehrt und zur Freude der akademischen Gemeinschaft auch Orchideenfächer zur Blüte getrieben. Nicht selten liegen den Universitäten Gründungsmythen in der Wiege oder Überväter, die als Namensgeber dienen, werden als geistige Paten zitiert. Häufig wurde repräsentativ und bisweilen protzig gebaut. Die spätere Maxime »Wissen ist Macht« war dem akademischen Denken stets immanent – schließlich hing das Wohl einer Gemeinschaft und deren Zukunft von der Akademie ab. An der glorreichen, hoffnungsvollen und durch und durch positiven Zukunft, wollte man auf jeden Fall auch als gestaltende Instanz teilnehmen.
Zu einem städtischen oder dörflichen Entwicklungsquartier gehörte als unmittelbare Zentralität die Gründung einer Kirche; Heute ist es eher eine Hochschule. Die Art dieser Hochschule ist nicht unentscheidend für den Erfolg des Stadtquartiersentwicklungsprozesses. Doch warum sind es gerade mit ZHdK und HafenCity Universität zwei akademische Einrichtungen, die sich Kunst beziehungsweise Baukunst verschrieben haben? Es scheint gerade auf die Unterschiede in den Wissenschaften und insbesondere in der Praxis der Wissens-Schaffung anzukommen. Schon allein die Vorstellung, chemische Laboratorien oder ein Institut für Schwerionenforschung im Toni-Areal oder in der HafenCity zu platzieren, ist schlichtweg wenig sexy. Die Kenngröße für die anzusiedelnde Hochschule besteht nur teilweise in ihrer wissenschaftlichen Reputation. Vielmehr ist entscheidend, dass man die wissenschaftliche Einrichtung als ein spezifisches Bild ihrer selbst inszenieren kann: Wissenschaftsglaube bzw. Wissensarchitektur als Mantra. Dass in die Gründungszeit der HafenCity und Zürich-West auch gerade die Reintegration der Künste in die akademischen Diskurse fällt, mag sich als echte Zukunftschance oder auch als Farce erweisen. Das gelegentliche Unbehagen der Studierenden an diesen Universitäten entsteht nicht zuletzt, dass sie wesentlicher Bestandteil dieser großen Inszenierung sind, bei der sie ungefragt eine Rolle spielen und deren Reflexion ihnen zuweilen enorm schwerfällt. Sie sind sich innerhalb ihrer Ausbildungsprogramme gar nicht bewusst, dass sie hier eine Statistenrolle bekleiden.

Schmuckeremiten
Im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde es Mode der Adelsgeschlechter, sich zur Kennzeichnung der erreichten Macht Schmuckeremiten zu leisten. Diese Menschen band man in die englischen Landschaftsgärten ein und gab ihnen eine Aufgabe: Sie sollten gegen ein geringes Salär auf dem Anwesen unter ärmlichen Bedingungen, etwa in einer Höhle oder einer kargen Holzhütte, leben und die Bibel lesen – doch ihre Hauptaufgabe war, sich gelegentlich zu zeigen. Ein komisches, absonderliches Gebaren sowie ein für heutige Begriffe ungepflegtes Erscheinungsbild wurde gerne in Kauf genommen, wenn nicht sogar erwartet. Der Schmuckeremit war das passende Menschenmaterial für die Ausstattungen eines zeitgemäßen Landschaftsgartens. Der adelige Besitzer konnte mit seinem Schmuckeremiten prahlen, Geschichten über schräge Zusammenkünfte mit ihm erzählen. Dabei ist dieser eine Ergänzung des Gartenbildes und sich seiner Rolle bewusst.
Ähnlich geriert es sich mit der Situation der Studierenden in den angesprochenen neuen Wissensarchitekturen: Anstelle eines Landschaftsgartens gibt es ein Stadtgebiet, in dem sich der studierende Einzelne zu zeigen hat und zur Stadtteilbelebung beitragen soll, was nichts anderes meint, als sich den angestammten legitimen Bewohnern mit allerlei Schrägheiten zu zeigen, als Gesprächsstoff und zur Belebung der Straßendioramen zu dienen. Um dies bestmöglich zu garantieren, gibt es den Wissensarchitekturkanon: Und der besteht vor allem aus Durchlässigkeit oder Transparenz. Man kann schauen, was die vielen Schmuckeremiten da treiben! Gelegentlich laden sie sogar zu Ausstellungen ein. In ihrer Mensa kann man günstig Speisen zu sich nehmen und ihre abstrusen, weltfremden und naiven Erörterungen beobachten, die weit entfernt sind von der erstrangiger Verwertungslogik: connecting generations, giving images of visionary futures (so könnte beispielsweise der Claim der knackigen Bildungsförderung lauten).
Nun wird gerne argumentiert, dass dies nicht die einzige Funktion der Universität sei, schließlich wird hier akademischer Nachwuchs ausgebildet, vielleicht sogar Forschung betrieben usf. Diese Argumentationslinien deuten darauf hin, dass man der eigenen Rolle gerne mehr Relevanz zuschreiben möchte; als ob die vermeintliche Irrelativsetzung die Betroffenen narzisstisch kränke. Zum einen sei gesagt, dass mitunter die Rolle nicht nutzlos und schon gar nicht wertlos ist – zumindest momentan, wo das wirtschaftliche System sich einen geldwerten Vorteil aus der Ansiedlung von Schmuckeremitenuniversitäten und Schmuckeremitstudierenden sieht –, zum anderen, dass diese Ausbildung ja durchaus akademisch qualifiziert. Etwa zum Supereremiten oder zu denjenigen, die die Eremitagen verwalten oder neue Refugien für sich und ihresgleichen erschließen – es gibt noch genügend Entwicklungsquartiere, die nach Universitäten dürsten – oder die Beschäftigungsinhalte für die Eremiten erstellen. Die postmoderne Form der Wissensproduktion ist ein Füllhorn ohne Boden.

Eremitage ZHdK – Eremitage HCU
Doch was macht eigentlich das Surplus der Wissensarchitektur für ein zu monetarisierendes Viertel aus, wenn der von der Hochschule produzierte Inhalt letztlich zweit- oder drittrangig ist? Auch hier lohnt sich ein Vergleich mit den prämodernen Schmuckeremiten: Ein geschaffener Mehrwert ergab sich für den Gutsherrn höchstens unmittelbar. In unseren Hochschulen haben wir große Fenster, man kann reingucken und etwa die Eremiten, die dort Tanz studieren, betrachten und sich an ihrem Anblick erfreuen. Sie sind ein Konsumgut geworden. Die Marketingabteilungen werden möglicherweise schon bald Mittagsführungen für die geschäftige Nachbarschaft durch die Hochschule anbieten. Das attraktive Moment heutiger Schmuckeremiten an Universitäten und Hochschulen ist nichts schöngeistiges, sondern eine spezifisch sexuelle Form.

Philosophisches Theater
Prinzipiell hätte der moderne Schmuckeremit ja eine gesicherte Zukunft. Immerhin unterhält er das Publikum und wird so zum veritablen geldwerten Standortvorteil. Die modernen Schmuckeremiten vermieden es bisher, sich ihre Anwesenheit sachgerecht vergüten zu lassen. Den Mehrwert der Arbeit streicht – wie könnte es auch anders sein – der Besitzende ein. Die Eremiten könnten (und sollten) prinzipiell als Dienstleister ein gerechtes Salär bei der Stadtentwicklungsgesellschaft, den Immobilieneigentümern und nicht zuletzt den Bewohnern des attraktiven Wohnviertels einfordern. Dazu fehlt ihnen aber neben ausreichend Chuzpé auch die notwendige Reflektion über die Rolle in der Inszenierung. Es wäre auch die einzige wirksame Irritation des Wirtschaftssystems. Selbst der vor Ihnen liegende Text besitzt, egal wie aufrührerisch er geschrieben sein mag, kaum den Inhalt, der eine Reaktion rechtfertigen würde: Wir könnten uns nackt vor unsere Universitätsgebäude stellen und so lange schreien, bis die Polizei uns verhaften würde. Wir hätte damit unsere Rolle als Schmuckeremiten hervorragend erfüllt! Oder wir könnten die vielen Fensterscheiben zukleben, um uns der Beobachtung zu entziehen, wir könnten wilde Drohungen gegen unsere Beobachtenden aussprechen: Auch so würden wir – wenn auch anders schräg – unsere Daseinsberechtigung erfüllen.
Gerade diese Schräge vermittelt die Öffnung der Türen des Denkens und bietet den vordergründigen Nachweis, dass die Stadt offen für das Fremde ist, das sich hier zeigt – die zur Schau gestellte Offenheit ist unter Marketingaspekten betrachtet Bares wert.

Frank Müller, Tobias Strebel, Max Walther

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