Expertinnen für Irgendetwas – Führungen als Wissensorte. Formate und Potentiale von guided tours.

Wir alle kennen sie, die Führung. An einer Führung, einer guided tour, nehmen wir teil, um etwas über einen Ort – sei es ein Gebäude, eine Stadt oder ein Stadtteil – zu erfahren. Wir wollen den Ort kennenlernen, Informationen zu seiner Geschichte oder Planung erhalten, von Ortsansässigen oder von Expert*innen 1 an das Alltägliche oder das Spezifische des Ortes herangeführt werden. Aber was macht eigentlich eine Führung aus und wie können wir das in einer Führung vermittelte Wissen bewerten?

Im Rahmen einer Exkursion nach Zürich nahmen wir an mehreren Führungen teil. Thema der Exkursion war die Verknüpfung von Wissensorten mit der Stadt und ihre Rolle in der Stadtentwicklung. Als Wissensorte galten vorwiegend universitäre Orte, sodass wir uns drei unterschiedliche Hochschulen in Zürich anschauten. Im Vordergrund standen deren Standorte in und ihre Verbindungen zur Stadt, die verschiedenen Bauweisen und die von den Architekt*innen geplante so wie die tatsächlich stattfindende Nutzung.
Bei den Führungen fiel uns auf, dass sich die besuchten Orte nicht nur planerisch, strukturell und architektonisch von einander unterschieden, sondern auch, dass die Führungen selbst den Orten auf unterschiedliche Weise Gestalt gaben. Das Wissen, das in einer Führung vermittelt wird, definiert sich nicht nur aus den Fakten über den jeweiligen Ort, die sich jede*r anlesen könnte. Es wird zudem durch die Profession und das fachspezifische Wissen des jeweiligen guides, aber auch massgeblich durch das individuelle Interesse und die persönliche Meinung und Einstellung der Person geprägt. Unsere Erfahrungen zeigten darüber hinaus, dass sowohl das fachliche und soziale Verhältnis zwischen Teilnehmer*innen und guides als auch das Format der Führung und die Art des Informationsaustausches die Produktion eines für die Teilnehmenden vorher unbekannten Ortes beeinflussen. Gleichzeitig wurde uns klar, dass keine spezielle Qualifikation notwendig ist, um Führungen anzubieten. Jede*r ist Expert*in für irgendetwas, so scheint das Motto. Wir stellten uns also die Frage, wie Führung und vermitteltes Wissen zusammenhängen.

Welches Wissen produziert die Führung? Welche Rolle spielen dabei der guide selbst und sein Verhältnis zu den Teilnehmenden? Und wie produziert das vermittelte Wissen den Ort selber?
Während unserer Woche in Zürich fielen uns bestimmte, sich in den unterschiedlichen Führungen wiederholende Begriffe auf: Transparenz, Lichtkonzept, Farbakzente, Parzellen, Sichtachse und repräsentativ sind nur einige der Wörter, die uns regelrecht zu verfolgen schienen. So unterschiedlich die Führungen auch waren, konnten wir durch die Begriffe immer wieder Verknüpfungen herstellen. Folglich begannen wir auch auf Grund dieser wiederkehrenden Begriffe, zunehmend nicht nur auf den Inhalt der Führungen zu achten, sondern uns über das Format Führung selber Gedanken zu machen. In der Auseinandersetzung mit dem Thema entstanden während unserer Exkursionswoche und darüber hinaus verschiedene Annahmen und Thesen. Bisher gibt es sehr wenig (kultur-)wissenschaftliche Literatur zum Thema Führungen. Wir stützten uns daher vorwiegend auf eigene empirische Daten, auf eigene Beobachtungen und Reflexionen unserer Erfahrungen.

Führungen als wandernde Orte des Wissens
Unsere Auseinandersetzung mit dem Thema der Führung basiert auf Erfahrungen der besuchten Führungen, so wie einer selbst konzipierten und durchgeführten Führung. Im Vordergrund dieses Artikels sollen also Führungen, guided tours stehen. Gleichzeitig spielt das Exkursionsthema Wissensorte ebenfalls eine Rolle, denn wir betrachten die Führung als solche ebenfalls als Wissensort. Dieser ist möglicherweise nicht an einen bestimmten Punkt gebunden, da sich Führungen meist bewegen. Dennoch ist die Führung als wandernder Wissensort stets zu lokalisieren und steht oft in Verbindung zu sehr spezifischen Orten.

Die erste Führung in Zürich fand im Toni Areal statt, in dem seit ungefähr einem Jahr die Züricher Hochschule der Künste (ZHdK) zu Hause ist. Eine Professorin des Studiengangs Kunst und Vermittlung, die ausserdem Koordinatorin der Exkursion war, zeigte uns unterschiedliche Seminarräume, Werkstätten, Ateliers und Büros sowie die architektonischen Besonderheiten des Gebäudes. Beispielsweise die grosse Kaskade, die durch das gesamte Gebäude führt und das Gebäude wie einen Teil der Stadt wirken lässt, der öffentlich zu durchqueren ist. Da die Zürcher Studierenden und Lehrenden sich in einer ähnlichen Situation befinden wie wir (Umzug der Universität von unterschiedlichen Standorten in ein neues oder neu umgebautes Gebäude mit hohem architektonischen Standard, in dem Ästhetik teilweise vor Nutzbarkeit zu stehen scheint), wurde die Führung schnell zu einem Austauschformat über Baumängel, Nutzungspraktiken und Bedeutung freier Flächen, Bürostrukturen und Arbeitsbedingungen und -atmosphären im Fokus einer omnipräsenten Transparenz. Durch die Gemeinsamkeit auf sozialer und fachlicher Ebene fand die Führung eher als Austausch, Rundgang und Vergleich der universitären Gebäude, Nutzbarkeit, Aneignung und (städte-)baulichen Erfolgen sowie Schwächen statt. Dabei fand die Kommunikation nicht hierarchisch von guide zu Teilnehmenden statt. Während unsere Begleiterin vor allem die Richtungen angab und auf einige Besonderheiten am Bau sowie Kuriositäten in der Nutzung hinwies entwickelten sich wechselnde Gespräche zwischen Studierenden und Lehrenden.
Eine erste offiziellere Führung erwartete uns in der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH), deren Campus oberhalb der Stadt auf dem Hönggerberg erbaut wurde. Als offizieller bezeichnen wir diese Tour darum, weil unser guide Mitglied des offiziellen Führungs-Teams der ETH war. Mit dieser Information im Hinterkopf waren wir überrascht, einen Master Studenten der Ingenieurswissenschaften anzutreffen, der nicht viel älter schien als wir. Wir hatten einen Vertreter erwartet, der sämtliche Vorzüge, Auszeichnungen und Alleinstellungsmerkmale dieser international anerkannten Elite-Universität aufzeigt. Es wurde jedoch sofort spürbar, dass unser guide sich explizit mit der erwarteten Gruppe auseinandergesetzt hatte. Er sprach uns als Kulturwissenschaftler*innen an und stieg mit einer Frage an uns als Expert*innen in die Tour ein, die ihn in der alltäglichen Nutzung/Aneignung des Campus beschäftigte. Die Führung verlief nach einem klaren Muster und wir liefen strukturiert hinter unserem guide her, um an Orten halt zu machen, an denen es etwas zu berichten oder zu sehen gab. Die Führung war vorwiegend auf die Architektur und die unterschiedlichen Bauweisen und -zeiten der verschiedenen Gebäude und deren Zusammenspiel als Campus ausgerichtet. Unser guide lieferte uns allgemeine Fakten rund um die Bauwerke und speziellen Forschungsfelder der ETH, für die die Lage auf dem Land und entfernt vom Stadtkern wichtig ist, suchte jedoch gleichzeitig den fachlichen Austausch mit uns und wurde nicht müde, nach unserer Meinung zu fragen. Es schien fast, als wäre er froh mit seinen Fragen an die Gebäude und die seines Erachtens fehlende Campus Atmosphäre auf dem Hönggerberg, in uns adäquate Gesprächspartner zu finden. Wir standen vielen planerischen Ideen und Umsetzungen ebenfalls kritisch gegenüber. Wider Erwarten entwickelte sich diese Führung obgleich ihrer klaren Struktur und des offiziellen Vertreters der Universität als zielgruppengerecht und interdisziplinär reflektierend mit einer Kommunikation zwischen Teilnehmenden und guide auf Augenhöhe.
In einem deutlichen Kontrast zu den bereits genannten Führungen steht die Tour durch das neue Gebäude der Pädagogischen Hochschule (PH) in unmittelbarer Nähe der ebenfalls neu geplanten Europaallee im Stadtkern von Zürich. Als guide empfing uns die ehemalige Assistentin des Architekten, die zur Zeit der Planung und des Baus aktiv am Prozess beteiligt war. Eine Besonderheit der PH ist, dass im Stadtzentrum durch die Anordnung der Gebäude eine Art öffentlich zugänglicher Innenhof entsteht, auf dem das studentische wie auch das städtische Leben zusammenkommen soll. Die Gebäude erzeugen durch ihre Materialität und rechtwinklige Anordnung jedoch eine eher kühle Atmosphäre und werfen Schatten auf den als Campus geplanten Platz. Hinzu kommt eine spärliche Ausstattung mit Sitzgelegenheiten, die wir als solche erst nach Erläuterung durch unseren guide erkannten. Unseres Erachtens schien eine Nutzung und Aneignung des Platzes durch Student*innen und Menschen, die in der Umgebung arbeiten, eher fragwürdig. Diese Annahme wurde gestützt durch die konsequente Erläuterung der besonderen Materialien, der aussergewöhnlichen Bauweise und Planung von Büros sowie Sozialräumen und dem Einsatz von Kunst am Bau. Unser guide vermittelte keinen Zusammenhang zwischen Planung und alltäglicher Nutzung; auf Nachfragen aus der Gruppe zu diesem Thema wurde die Nutzung der Flächen, Räume und des Mobiliars lediglich vom Grad der Materialabnutzung hergeleitet. Durch unser konsequentes Hinterfragen wurde deutlich, dass zwischen dem Architekturbüro und den tatsächlichen Nutzer*innen keine Evaluation, Rückmeldung oder Analyse stattfindet.
Das Hinterfragen der Informationen, die von der Expertin für Architektur dargelegt wurden, brachten diese zunehmend aus ihrer Rolle und veränderte die Kommunikationsstruktur der Führung. Nachdem wir zunächst mitgelaufen und eher Fakten konsumiert hatten, kam unsere Gruppe an den Punkt, diese so nicht stehenlassen zu können. Unser guide, sichtlich stolz auf die Einzigartigkeit des Gebäudes, vermittelte uns einen Blickwinkel der Fachrichtung Architektur, der uns höchst fragwürdig und nicht dem heutigen Anspruch an ein (universitäres) Gebäude entsprechend erschien. In der dabei entstehenden Diskussion fiel unser guide aus der Rolle und änderte die Kommunikationsstruktur dahingehend, dass sie versuchte, ihr Gesagtes unseren Erwartungen entsprechend zu formulieren und uns in unserer Sichtweise Recht zu geben. Dies führte allerdings eher dazu, dass wir ihre Rolle als guide und Expertin noch weniger ernst nehmen konnten.
Angesichts dieser unterschiedlichen Führungen treiben uns folgende Fragen um: Wie wären die einzelnen Führungen verlaufen, hätte uns beispielsweise das Präsidium der ZHdK durch das neue Gebäude geführt, ein Professor für Architektur durch die ETH oder eine Pädagogik-Studentin durch die PH? Wie würde sich das gesammelte Wissen verändern und damit unsere Wahrnehmung der Orte?

Inwiefern produzieren Führungen einen Ort? Kann die Führung als eine Metapher für Orte und somit auch für eine Stadt verstanden werden?
Metapher ist ein »sprachlicher Ausdruck, bei dem ein Wort (eine Wortgruppe) aus seinem eigentlichen Bedeutungszusammenhang in einen anderen übertragen wird, ohne dass ein direkter Vergleich die Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem verdeutlicht; bildliche Übertragung«. 2 Folgt man der Annahme, die Führung sei eine Metapher für einen Ort, wäre ihr Inhalt – das durch sie vermittelte Wissen, die Fragen die sie aufwirft und all das, was sie offen lässt sowie die Beziehung, die zwischen guide und Teilnehmenden entsteht – demzufolge eine Verdeutlichung, Verbildlichung des Ortes. Dieses Bild entsteht assoziativ und subjektiv, wobei die Führung als Input stets die Basis bildet. Welche Informationen, Fragen und Beobachtungen jede*r Einzelne für sich aus ihr zieht, bleibt dabei offen. Da der guide, wie oben beschrieben, für den Verlauf der Führung eine wesentliche Rolle einnimmt, hängt die Produktion des Bildes von einem Ort gleichermassen von ihm*ihr ab. Da jemand, der eine Führung anbieten will, keine spezielle Qualifikation benötigt, kann angenommen werden, dass jede*r zum guide werden kann, solange er oder sie sich als Expert*in für irgendetwas bezeichnen kann.

Expertinnen für Irgendetwas
Nach all den Beobachtungen in Zürich hatten sich bei uns also Annahmen und auch offene Fragen zu guided tours entwickelt, sodass es uns reizte, es selbst einmal auszuprobieren.

Der zweite Teil unserer Auseinandersetzung mit dem Format der Führung war die Konzeption und Durchführung einer eigenen Tour. Wir wollten uns dem Thema, das wir bisher aus der Perspektive der Teilnehmenden betrachtet hatten, auch aus der Perspektive der guides annähern. Die dadurch gewonnenen Erfahrungen sollten als zusätzliches empirisches Material helfen, unsere Annahmen zu überprüfen und zu erweitern. Geplant war eine Tour an unserer Universität, der HafenCity Universität Hamburg, für eine Gruppe von Kunststudent*innen aus Zürich und Hongkong. Unsere Rolle als guides definierte sich dabei einerseits durch unser Verhältnis zu dem Ort der Führung und andererseits durch unser Verhältnis zu den Teilnehmenden: An der uns vertrauten HCU sind wir in erster Instanz Alltagsexpertinnen. Zusätzlich dazu haben wir uns in bestimmten Bereichen spezifisches Fachwissen und Fakten über die Universität bzw. das Gebäude angeeignet. Aus diesen beiden Formen des Wissens, über das wir verfügen, resultierte das Thema der Führung. Sie setzte sich grösstenteils mit dem Aspekt der tatsächlichen Nutzung des Gebäudes auseinander. So wollten wir Schleichwege benutzen und Formen der Aneignung des Gebäudes evozieren. Unsere Rolle gegenüber den Teilnehmenden zeichnete sich dadurch aus, dass sie auch Studierende waren, die wir grösstenteils bereits kannten. Dadurch war eine verhältnismässig hierarchiefreie Begegnung absehbar, die durch das von uns gewählte Format der Führung aufgegriffen und verstärkt wurde. Trotzdem wurden wir in unserer Rolle als Expertinnen angenommen. Spannend waren zwei Faktoren, die uns teilweise aus dieser Rolle herausfallen liessen: Zum einen ein weiterer HCU Student – also ebenfalls ein Experte – unter den Teilnehmenden, der sein Wissen in die Gespräche einbrachte und somit teilweise spontan unsere Aufgabe, die des Erklärens von Fakten, übernahm. Zum anderen die Anwesenheit einer teils beobachtenden, teils teilnehmenden Lehrperson, wodurch für uns eine Prüfungssituation hervorgerufen wurde. In ihrer Gegenwart war es ungewohnt als richtungsweisende und Aufgaben erteilende Personen aufzutreten, also die alltäglichen Rollen zu tauschen.
Zur Vorbereitung unserer Tour hatten wir an einer von der Universität angebotenen Führung teilgenommen, eine zwar klassische Führung, die aber trotzdem genug Raum für spontane Fragen und Diskussionen und daraus entstehende Themen gelassen hatte. Ausserdem sprachen wir mit einer für die offiziellen Führungen mitverantwortlichen Person, die über besonders viel fachliches Wissen über die HafenCity Universität und das Gebäude verfügte. Ein weiteres Gespräch führten wir mit einer Expertin zum Thema künstlerische/performative Führungen, was für uns schon aufgrund des Mangels an Literatur zu dem Thema sehr hilfreich war.
Wir entwarfen eine Tour, die sich aus drei Teilen zusammensetze: Im ersten Abschnitt zeigten wir der Gruppe die oberen Stockwerke des Gebäudes, wobei wir dem Muster einer klassischen Führung folgten. Wir wählten im Voraus bestimmte Orte aus, an denen wir stehen blieben um etwas zu zeigen und zu erklären. So lieferten wir bestimmte Fakten zum Gebäude der HCU. Wir begannen die Tour am verschlossenen Ausgang zur Dachterrasse. Auf dem Weg zu den anderen Stockwerken nutzten wir verschiedene Treppenhäuser, sowohl das zentrale, häufig genutzte, als auch die kleinen, versteckten geheimen Treppen. Im zweiten Teil unserer Tour wollten wir versuchen, die stringente Wissensvermittlung die allein von den guides ausgeht, zugunsten eines offeneren, interaktiven Austausches aufzubrechen. Dazu sollten die Teilnehmenden in Gruppen die unteren Stockwerke (welche wir in unserem Unialltag am häufigsten nutzen) erkunden und Aufgaben erfüllen. Sie waren dazu aufgefordert, sich als Gruppe einen bestimmten Ort auszusuchen, der in irgendeiner Hinsicht ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, und diesen mit assoziativ gesammelten, auf Post-its notierten Begriffen zu kennzeichnen. Abschliessend wollten wir mit der gesamten Gruppe diese Orte besichtigen und in eine gemeinsame Diskussion über die ausgewählten Orte übergehen.
In der Durchführung bereitete uns zunächst einmal das Zeitmanagement ein Problem. Es war schwieriger als gedacht, die ganze Gruppe durch das belebte Gebäude zu navigieren und wir benötigten insgesamt mehr Zeit als vorhergesehen. Ausserdem wurde uns klar, dass es schwierig aber von enormer Bedeutung ist klare Ansagen zu machen. Post-It_innen_5
Auch wenn man keine Hierarchie erzeugen will, ist eine deutliche und unmissverständliche Moderation erfolgsentscheidend und zeitsparend. Die von uns gestellten Aufgaben wurden schnell angenommen und bearbeitet, obwohl der Auftrag recht offen formuliert war. Spannend waren für uns vor allem die Themen und Aspekte, die von den Teilnehmenden zur Sprache gebracht wurden. Grösstenteils waren es dieselben Themen, die auch für uns HCU-Studierende zur Diskussion standen. Dazu zählen zum Beispiel die Nutzung und Aneignung der unverputzten Betonwände – bei uns aus Gründen der Brandschutzverordnung untersagt aber trotzdem permanent praktiziert – oder die augenscheinlich problematische Konzeption der Arbeitsbereiche, bei denen aufgrund der Offenheit ein hoher Lärmpegel herrscht. Post-it_außen_5Auch die Überproportionalität der nicht funktionalen, repräsentativen Flächen wurde thematisiert, von manchen negativ konnotiert (zu viel Platz, fehlende Sitzmöglichkeiten), von anderen positiv („free space“).
Immer wieder wurde auch auf die verschiedenen Materialien, auf Kontraste und daraus resultierende Atmosphären eingegangen. Interessant war für uns auch ein anderer der ausgewählten Orte, der als eine Art Geheimversteck (»hidden«, intimate«, »observation spot«) identifiziert wurde und der bei einer klassischen Führung wohl nicht beachtet worden wäre. Eine Teilnehmerin fand in einem Seminarraum einige Stücke Kreide und begann ihren Weg durch das Gebäude mit einer Kreidelinie an der Wand zu markieren.Kreide_1 Sie sagte, das Gebäude käme ihr so überproportional gross und die Wände extrem hoch vor, sodass sie dieses Missverhältnis mit den Markierungen festhielt, die sie in einer für sie angemessenen Höhe anbrachte. Diese ungeplante Intervention zusammen mit den Post-it-Zetteln war genau das, was wir uns von der Führung unter anderem erhofft hatten: Spuren der Aneignung, die noch über Wochen hinweg im Gebäude zu sehen waren und die den Besuch der Studierenden anderer Universitäten und ihre Eindrücke von unserem Gebäude (temporär) in das Gebäude einschrieben. Kreide_2Post-It_innen_4
Was uns unsere Führung verdeutlicht hat, war aber auch, dass es extrem schwierig ist, innerhalb einer Führung klassische Elemente einer stringenten Wissensvermittlung mit eher spielerischen, interaktiven Methoden zu vermischen. Der Spagat zwischen diesen beiden Modi ist uns wohl nicht so gut gelungen, wie erhofft. So waren die unterschiedlichen Teile der Führung stark voneinander getrennt. Aufgrund der gemachten Erfahrungen stellt sich uns nun die Frage, wie es möglich ist, die Vermittlung von Informationen und Fakten über einen Ort mit performativen, interaktiven Elementen zu vereinen, um die nur in eine Richtung verlaufende Wissensvermittlung zugunsten eines Dialoges aufzubrechen. Denn unsere Erfahrungen mit Führungen haben uns gezeigt, das wirkliches Lernen oft erst dann stattfindet, wenn man als Teilnehmende*r nicht nur Wissen konsumiert, sondern in ein Gespräch, in einen gegenseitigen Austausch kommt.

In dem Format der Führung steckt viel mehr als die Möglichkeit blosser Wissensvermittlung, denn es trägt das Potenzial in sich, guides und Teilnehmende von dem Wissen der jeweils anderen profitieren zu lassen und so letztendlich neues Wissen zu schaffen.
Die Frage ist nur, wie man diese Wissensproduktion gestaltet und inwiefern man den gegenseitigen Austausch von Wissen planen oder vorgeben kann und will bzw. inwiefern dieser Austausch spontan geschieht, wenn nur – und darin gleichen die Führungen der gebauten Architektur – genügend Freiräume für spontane Interventionen und Interaktionen der Teilnehmenden bzw. Nutzer*innen vorhanden sind.

In der Auseinandersetzung mit dem Format der Führung konnten wir also verschiedene Potenziale entdecken. Führungen produzieren Wissen; massgeblich wird diese Wissensproduktion von der Rolle des guides und von seinem Verhältnis zu den Teilnehmenden, das heisst durch die jeweilige Kommunikationsstruktur, beeinflusst. Durch das kollektiv hergestellte Wissen über einen Ort wird der Ort selber (re-)produziert. Gleichzeitig sehen wir die Führung als eine Metapher eines Ortes oder einer Stadt sehen, wobei diese Verbildlichung der Stadt/des Ortes stets assoziativ und subjektiv ist und wiederum je nach guide, mit seinem Fachwissen, der Performance und der Kommunikation mit den Teilnehmenden variiert. Diese Analogie zwischen Führung und Metapher ist allerdings bisher nur unsere Annahme und muss noch fundierter untersucht werden.

Führungen als Forschungsmethode
Der Tourismus hat das Format der Führung schon lange für sich erschlossen. Dabei ist auffällig, dass immer mehr alternative Führungen und Rundgänge zu speziellen und kleinen Themenbereichen angeboten werden, bei denen Kunst/Performance und touristische Stadtführung verschmelzen. Zunehmend spielen aber auch Künstler*innen mit dem Format der Führung. Denn gerade wenn man Führungen – ob in ihrer klassischen Form oder als partizipatives, spielerisches Vorgehen – als Methode begreift, um sich kollektiv mit einem Ort auseinanderzusetzen, erkennt man ihr Potenzial als Forschungsmethode in der Stadtforschung. Um die Führung als solche zu nutzen und zu etablieren, müssen aber vor allem die Rolle des guides, der Teilnehmenden und der Kommunikationsstruktur in der Produktion von Wissen reflektiert werden. Umso erstaunlicher ist es für uns, dass die (kultur-)wissenschaftliche Literatur sich dem Thema bisher eher spärlich zuwendet – und umso mehr sehen wir uns in unserem Vorhaben bestätigt, uns mit dem Thema der Führung auseinanderzusetzen.

Selina Müller,  Lisa Noel

  1. In diesem Artikel wird die Geschlechterschreibweise mit Gender Gap verwendet, in der ein Sternchen eine Lücke für die Menschen lässt, die sich nicht ausschließlich oder entschieden dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugehörig fühlen. Außerdem wird mit der englischen Bezeichnung der guide eine Person bezeichnet, die eine Führung, wobei es keine Rolle spielt welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlt.
  2. http://www.duden.de/rechtschreibung/Metapher

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