Die zunehmende Relevanz der Wissensgesellschaft und der wissensbasierten Wirtschaft üben großen Einfluss auf Städte aus. Die steigende globale Wettbewerbsfähigkeit von Städten verstärkt den Druck auf Hochschulen und ihre Rolle in der Stadt 1. Wissen wird zu einem Schlüsselfaktor für erfolgreiche Stadtökonomie und damit auch für die Konkurrenzfähigkeit von Städten im globalen Wettbewerb. Die Zusammenarbeit von Universitäten und Städten, insbesondere in Stadtentwicklungsprojekten, wird immer wichtiger.
In Zürich-West zwischen Bürobauten, Zugschienen, Brücken und mehrspurigen Schnellstraßen befindet sich das Toni Areal. Einst eine Molkerei, nun Heimat gleich zweier Hochschulen sowie unzähliger weiterer Einrichtungen und Funktionen. Im Sommer 2014 wurde das neue Gebäude bezogen. Aus 35 unterschiedlichen Standorten fanden sich in der ehemaligen Molkerei unterschiedliche Institute zusammen, um eine Kunsthochschule zu verwirklichen, an der alle Kunst- und Designdisziplinen an einem Ort vereint sind: Die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Neben der ZHdK ist ebenfalls die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) vor Ort vertreten. Außerdem beherbergt das Toni Areal einige Eigentumswohnungen im hochpreisigen Segment, einen Musikklub, ein Kino, eine Bibliothek und das Schaudepot des Museums für Gestaltung. Bei unserem Aufenthalt erfahren wir, dass im Toni Areal über 1000 Veranstaltungen im Jahr stattfinden. Das Toni Areal ist also mehr als nur ein Campus. Es ist eine »Stadt in der Stadt«, so beschreiben es die Architekten vom Büro EM2N, die sich für den Umbau des Toni Areals maßgeblich verantwortlich zeichnen.
Deutlich wird jedoch in jedem Moment und überall: Das Toni Areal hat eine überaus wichtige Funktion in bzw. für Zürich. Es verkörpert mehr als nur zwei Hochschulen. Das Toni Areal ist für die Stadt ein Leuchtturmprojekt, soll das industriegeprägte Zürich-West aufwerten und sein Kulturangebot maßgeblich bereichern, dabei insbesondere die Kreativwirtschaft stärken.
Wie wurde auf architektonischer Ebene versucht, der Beziehung zwischen der Hochschule und ihrem Standort, der Stadt Zürich, Rechnung zu tragen?
Das Toni-Areal als »Stadt in der Stadt« – so wird es zumindest häufig von ArchitektInnen, PlanerInnen, nutzenden Hochschulen, aber auch JournalistInnen beschrieben – ist in seinen Nutzungen und Funktionen vielfältig. Die Architekten 2 sprechen gar von einem »inneren Urbanismus«. Bei der Planung des Areals wurde ein besonderer Fokus auf eine starke Beziehung zwischen dem Drinnen und Draußen gelegt. Den Eingängen des Toni-Areals kommt dabei eine wichtige, jedoch auch paradoxe Rolle zu. Sie bilden gleichzeitig eine Trennung und eine Verbindung zur Stadt. Mit welchen gestalterischen und städtebaulichen Elementen wird versucht eine Verbindung vom äußeren zum inneren Urbanismus herzustellen?
Wir begeben uns auf einen photographisch-essayistischen Rundgang in und um das Toni-Areal.
Treppe rauf, Tür auf, durch und wieder raus.
Mit einem fast naiv kindlichen Blick wollen wir auf Eingänge, Aufgänge und Durchgänge achten. Begleitet werden wir dabei vom Architekt Christopher Alexander, der in seinem 1977 erschienenen Handbuch »Pattern Language« (Eine Mustersprache) den ArchitektInnen und PlanerInnen praktische Hinweise und Regeln nahe legt, die beim Entwurf von Gebäuden zu beherzigen sind. Mit dabei auf ist auch der französische Schriftsteller George Perec, der uns mit Hilfe seines Romans »Träume von Räumen« (1974) praktische Übungen und Sichtweisen auf die Stadt sowie das Gebaute liefert und das, was sich darin abspielt. Außerdem schmückt ein Zitat von Bruno Latour, dem alten Scherzkeks, ein ganz besonderes alltägliches Element der Baukunst. Finde es!
Hereinspaziert.
»Wir behaupten sogar, dass der zentrale Eingang, der die Leute wie durch einen Trichter in ein Gebäude führt, schon von seiner Beschaffenheit her Macht ausstrahlt; das Muster vieler offener Stiegen, die von den öffentlichen Straßen direkt zu den Privattüren führen, strahlt hingegen Unabhängigkeit, beliebiges Kommen und Gehen aus.«
[Christopher Alexander 1977, S. 806]
»Praktische Übungen
Von Zeit zu Zeit eine Straße beobachten, vielleicht mit etwas systematischer Aufmerksamkeit. Sich dieser Beschäftigung hingeben. Sich Zeit lassen.
Den Ort aufschreiben: Der Haupteingang des Toni Areals
die Zeit aufschreiben: Zwei Uhr am Nachmittag
das Datum aufschreiben: 05. Januar 2015
das Wetter aufschreiben: schön
Aufschreiben was man sieht. Was sich an Erwähnenswerten ereignet. Vermag man zu sehen was Erwähnenswert ist? Gibt es etwas, das uns auffällt?«
[George Perec 1974, S. 84-85]
Ein riesiger Klotz aus Beton und Stahl, so der erste Eindruck. Einer, der sichtlich bemüht ist um Industriechic-Ästhetik. Er liegt in einer postindustriellen Stadtlandschaft umgeben von verwobenen Schichten städtischer Infrastrukturen, Verkehrsströmen, Bürogebäuden und modernen (Luxus-)Wohnungsbauten. Da rattert ein Zug vorbei, dort ein Tram, weiter hinten rauscht der Autoverkehr über die Duttweilerbrücke, unter der Bahnbrücke werden Fahrräder geparkt. Vor den Eingängen des Gebäudes versammeln sich RaucherInnen und Sonnenhungrige. Im (Strassen-)Café wird Koffein getankt und geplaudert.
Ein Aufgang ist ein Treppenhaus, das zu anderen Geschossen eines Gebäudes führt. Bekannt ist der Begriff ebenfalls aus der Astronomie. Da bedeutet Aufgang das Erscheinen eines Himmelskörpers über dem Horizont des Beobachters.
Weite, Sichtbezüge, Offenheit – Die Aufgänge des Tonis lassen viel Platz für den Horizont.
Der Eingang ist das zentrale Element eines Gebäudes. Er ermöglicht Einschluss, Ausschluss, Durchgang. Die Gestaltung des Eingangs sagt viel aus über die Bedeutung eines Gebäudes – pompös, schlicht, geheim, offensichtlich, repräsentativ; Funktionen, Nutzungen, Bilder werden einem Gebäude automatisch mit der Gestaltung der Eingänge eingeschrieben.
»Das Wichtigste ist, dass sich der Eingang von seiner unmittelbaren Umgebung stark unterscheidet (…) Leg den Haupteingang an eine Stelle, wo er unmittelbar von den Hauptzugangswegen zu sehen ist, und gib ihm eine ins Auge fallende Form, die vor das Gebäude herausragt.«
[Christopher Alexander 1977, S. 586]
Tatsächlich bieten die Plateaus am Ende der Treppen und Rampen vor den Eingängen des Toni-Areals einen guten Ausblick auf den Straßenraum und auf das, was sich dort abspielt. Wie ein roter Faden ziehen sie sich auch im Inneren des Gebäudes in Form von Treppenkaskaden weiter und bilden eine Art Grundgerüst des Areals.
Offenen Treppen in städtischen Raumen spricht Christopher Alexander eine interessante Wirkung zu: sie hätten eine enthierarchisierende, soziale Bedeutung:
»Es geht um folgendes: Eine Gesellschaft, die auf individuelle Freiheit setzt, versucht soziale Strukturen aufzubauen, die von der Person oder Gruppe, die »am Ruder« ist, nicht leicht beherrscht werden zu können. Sie versucht die sozialen Strukturen zu dezentralisieren, sodass es viele Zentren gibt und keine Gruppe übermäßig viel Kontrolle hat (…) Offene Treppen, die eine Ausweitung der öffentlichen Welt darstellen und wirklich bis zur Schwelle jedes einzelnen Haushalts und jeder Arbeitsgruppe führen, lösen dieses Problem. Diese Räume sind dann direkt mit der Welt draußen verbunden. Von der Straße aus erkennt man jeden Eingang als echten Bereich von Menschen – und nicht von Großunternehmen und Institutionen, die die tatsächliche oder potentielle Macht zur Tyrannei haben.« [Christopher Alexander 1977, Muster Nr. 158, S. 807]
Laut Christopher Alexander bilden kleine Plätze »einen Knoten der Aktivität (…) Es kann sogar durch seine bloße Existenz einen Knoten erzeugen, wenn es richtig am Schnittpunkt von häufig benutzten Wegen angeordnet ist.«
Der Stammtisch liegt durchaus an einer häufig frequentierten Stelle: Wer zum Café, in die Mensa oder ins Museum Schaudepot will, kommt hier vorbei.
[Christopher Alexander 1977, S. 627-628]
Plätze bilden ein eminent wichtiges Element für das städtische Leben. Hier kann man sich Müßiggang hingegeben, das Straßengeschehen beobachten, Leute treffen und genau so wichtig, gesehen werden. Das Chez Toni, ein Straßencafé an der Pfingstweidstraße, direkt am Ende der Treppen zu einem der Eingänge, liegt an einem belebten, dynamischen Platz. Hier schlendern FußgängerInnen umher, fahren Trams und FahrradfahrerInnen vorbei und rauschen Autos über die Duttweilerbrücke. Als ruhig kann man diese Ecke wahrlich nicht bezeichnen, dennoch scheinen die Sitzplätze draußen und direkt an den Fensterfronten des Cafés äußerst beliebt zu sein.
»Die Straße wird keinesfalls funktionieren, wenn ihre Gesamtfläche nicht so klein ist, dass sie von den Fußgängern gefüllt wird. Leg entlang der Straße häufig Eingänge und offene Treppen an; vermeid innere Gänge, um die Leute herauszubringen; diese Eingänge sollten eine gewisse Zusammengehörigkeit haben und als System betrachtet werden können – die Leute sollten lnnen- und Außenräume mit Blick auf die Straße haben und die Straße sollte eine raumbildende Form haben.«
[Christopher Alexander 1977, S. 529]
Die Türen im Toni zeichnen sich durch viel Glas aus; Transparenz ist hier das Credo. Nicht nur die Außentüren zur »Öffentlichkeit«, sondern auch die Türen innerhalb des Tonis beinhalten häufig Partien aus Glas. Sichtbezüge schaffen, Ermöglichung von Kollaboration und Austausch; das Toni als Stadt in der Stadt setzt auf Partizipation.
»Mauern sind eine schöne Erfindung, aber wären sie nicht von Öffnungen durchbrochen, so gäbe es keine Möglichkeit, durch sie hindurch zu gelangen; wir wären von Mausoleen und Gräbern umgeben. Wenn man Öffnungen in den Mauern ausspart, fangen jedoch die Schwierigkeiten an, denn jeder beliebige oder alles beliebige kann nun hindurchkommen: Kühe, Besucher, Staub, Ratten, Lärm und, am schlimmsten von allem Kälte. Unsere Architekten-Urahnen haben daher folgendes Hybridwesen erfunden: ein in der Mauer ausgespartes Loch, im allgemeinen »Tür« genannt.«
[Jim Johnson; 2006]
»Wenn die größeren Wege durch und neben einem Gebäude wirklich öffentlich sind und durch einen Gebäudevorsprung, eine niedrige Arkade mit Öffnungen zum Gebäude – viele Türen, Fenster und durchbrochene Wände – überdacht werden, dann fühlen sich Menschen von dem Gebäude angezogen; sie sehen, was darin vorgeht und fühlen sich, wenn auch nur im Vorbeigehen, am Geschehen beteiligt. Sie werden vielleicht zuschauen, hineingehen und eine Frage stellen.«
[Christopher Alexander 1977, S.627-628]
Große, dreidimensional schiefe Lettern machen auf die Eingänge bei der Tramhaltestelle und der Betonrampe aufmerksam. Auch im Gebäudeinnern werden die großen Buchstaben aus Stahlblech als Orientierungshilfe eingesetzt: sie bezeichnen die jeweiligen Stockwerke. Abgesehen von dieser funktionalen Beschriftung finden sich keine weiteren Elemente der Kategorie Kunst am Bau. Das Toni-Areal, schon von weitem als ein grausam großes, graues Gebäude erkennbar, frönt stattdessen der rohen As-Found-Ästhetik.
Von der Molkerei zur Party- und Event-Location zum modernen Hochschulcampus und vielleicht auch zum Leuchtturmprojekt mit internationaler Ausstrahlung?
Das Toni-Areal steht sinnbildlich für die Veränderungen in Zürich West, das sich in den letzten Jahrzehnten vom Industriequartier zum Kulturdienstleistungs- und (hochpreisigen) Wohnviertel gewandelt hat. Es handelt sich beim Toni-Areal nicht bloß um einen neuen Hochschulstandort mit regionaler bildungspolitischer Bedeutung, sondern um ein wichtiges Leuchtturmprojekt für die künftige städtebauliche und wirtschaftliche Entwicklung Zürichs. So soll es die hiesige Kreativwirtschaft fördern, neue Urbanität ausstrahlen und die Belebung sowie die Attraktivität des umliegenden Quartiers (weiter) steigern. Ob dies tatsächlich gelingt, wird sich zeigen. Vermutlich müssen die NutzerInnen des Toni-Areals das Gebäude erst einmal annehmen, es für ihre Zwecke nutzen und aneignen lernen bevor es die gewünschte Strahlkraft entwickeln kann. Denn ein Gebäude beginnt erst mit seiner Nutzung wirklich zu leben.
LITERATUR
- Alexander, Christopher [1977]: Eine Mustersprache Städte – Gebäude – Konstruktion; Löcker Verlag, Wien, 1995.
- Benneworth P., Charles D., Madanipour A. (2010): ‘Building localized interactions between universities and cities through university spatial development’, in: European Planning Studies, 18, 10, October 2010, S. 1611-1629.
- Etzkowitz H., Webster A., Gebhardt,C., & Terra, B. R.C. (2000): The future of the university and the university of the future: evolution of ivory tower to entrepreneurial paradigm. Research Policy, 29 (2), S. 313-330.
- Johnson, Jim (2006): Die Vermischung von Menschen und Nicht-Menschen: Die Soziologie eines Türschließers. In: Bellinger, Andréa / Krieger, David J. (Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: Transcript, S. 237-258.
- Perec, Georges: [1974]: Träume von Räumen, diaphanes, Zürich-Berlin, 2013.
FOTOS: LENA WOLFART
ZEICHNUNGEN: JULIA LERCH-ZAJACZKOWSKA
KONZEPT & TEXT: NORA UNGER, LENA WOLFART, JULIA LERCH-ZAJACZKOWSKA