Einleitung: Ein (nicht) ganz normales Quartier

Die hier versammelten Skizzen stammen von ehemaligen und aktuellen Studierenden, wissenschaftlich-künstlerischen Mitarbeiterinnen und Dozierenden der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), vorwiegend des MA Transdisziplinarität (trans.zhdk.ch). Die meisten von ihnen sind in nur wenigen Stunden entstanden und waren ursprünglich nicht für eine Veröffentlichung gedacht. Die individuell oder in kleinen Teams unternommenen Erkundungen im Zürcher Quartier Escher Wyss dienten den Beteiligten als Diskussionsgrundlage. Es ging darum, in Rekurs auf die Entwürfe, die – auch dann, wenn sie sprachlich verfasst sind – eher ›etwas zeigen‹ als ›etwas sagen‹, Fragen an das Quartier im Dialog zu konkretisieren.

Für die Beschäftigung mit dem Quartier gab es einen Anlass: die ZHdK wird ab Sep­tem­ber 2014 hier ihren neuen Standort haben. Der Stadtteil – gegenwärtig noch im Ent­ste­hen – ist nicht nur Gegenstand von Werbe­mass­nah­men und Pro­mo­tion-Aktionen, sondern auch von öffentlichen De­batten und Sze­narien dessen, was aus ihm einst werden, wie sich Leben und Arbeiten dort an­fühlen und wie Zürich sich mit ihm als mut­mass­lich neuem Zentrum verän­dern wird. Auf der einen Seite gibt es die weit über die Stadt hinaus bekannten Zuschreibungen des ultimativen Trendquartiers und der belieb­tes­ten Aus­geh-Mei­le der ganzen Schweiz,1 auf der anderen wird das Quartier als «Reichenghetto»2 oder als «Immo Dorado»3 be­zeichnet. Für seine Zukunft gedeihen in den Köpfen von Akteuren und Pro­gnos­ti­kerinnen unter­schied­liche Vorstellungen, deren Wirklichwerden ungewiss ist. Erwartungen (und Befürchtungen) über einen wünschbaren (oder unerwünschten) Endzustand prägen Empfindungen und Urteile. Von wertenden Einschätzungen unabhängig wird das Quartier in seiner Entstehungsphase, in welcher Provisorisches, Wartendes, Fertiges und Unfertiges als Ungleichzeitigkeiten dominieren, oft als ›(noch) nicht normal‹ wahrgenommen. In manchen Sze­na­rien, die für das Quartier entworfen werden, spielt auch die ZHdK eine tragende Rolle: mit den jun­gen und ›kreativen‹ Men­schen, die sich nach dem Einzug der Kunsthochschule im Quar­­tier tum­meln wer­den, wird sich, so die Hoffnung, das »dynamischste Quartier der grössten Schweizer Stadt« mit der pro­gnosti­zierten »im­­pul­si­ven Urbanität«4 erst füllen.

Dass die ZHdK zu seiner ›Normalisierung‹ beitragen und dem Quartier den ihm noch fehlenden »eigenen Charakter« aufprägen soll,5 hat Fragen nach Normalität und Normalisierungsprozessen aufgeworfen. In der Übergangszeit, in welcher das Quartier als »Entwicklungsgebiet« gilt, zeigt sich womöglich bereits, welches Normale (oder unentdeckt Nicht-Normale) die Planungen samt ihrer Umsetzung anvisiert und einbezogen haben. Was könnte das sein?

In seinem »Versuch über den Normalismus«6 grenzt Jürgen Link den Begriff ›Normalität‹ strikt von ver­wandten Begriffen und Begriffsfeldern ab. Zentral dabei ist die These, moderne ok­ziden­tale Ge­sell­schaften würden sich nicht mehr an Normen und damit an präskriptiv fest­­ge­leg­ten Werten orien­tie­ren, sondern hauptsächlich am Normalen, das erst durch nach­träglich erhobene Statistiken und Durch­­schnitts­­analysen festgestellt wird. Link un­ter­­­scheidet zwei Varianten des Nor­ma­lis­mus: den älteren, statischen Protonormalismus, der die Gren­zen zwischen normal-anor­mal zu fixieren versucht und damit in der Nähe von normativen Setzungen bleibt, und den davon abzusetzenden neuer­en fle­xi­blen Nor­ma­lis­mus, der die Differenz zwi­schen normal-anormal in einem kon­ti­nuier­lichen Feld be­weg­lich hält. Charakteristisch für die Do­minanz des flexiblen Normalismus sind Denor­ma­li­sie­rungsängste, welchen mit der stetigen Ver­schie­bung der Dif­fe­renz normal-anormal begeg­net wird. Die un­schar­­fe Unterscheidung von normal-anor­mal auf einer kontinuierlichen Kur­ve be­­fördert die Angst vor Anor­malität, welchen Subjekte durch stetige Ad­jus­tie­rung an eine imaginierte Kur­ven­land­schaft begegnen. Voraussetzung dafür sind breit an­gelegte Ver­­­mes­sun­gen von Kör­pern, Sozialitäten, ihrer Verteilungen und Be­wegungen, deren Dar­stellung in Tex­ten, Tabellen, Kurven oder Diagrammen das ›Mass der Mitte‹ erkennbar und wirksam werden lässt.
Normalisierungsprozesse werden hauptsächlich mittels Analysen diskursiver Formationen untersucht. Dass sich solche Prozesse auch anhand von Stadt­ent­wick­lungen beobachten lassen, ist eine Hypo­the­se. Sie setzt voraus, dass Räume und Diskurse eng miteinander ver­knüpft sind und ihre Rela­tio­na­lität nicht nur ausgehend von Diskursformationen, sondern auch von der Darstellung, Beschreibung und Untersuchung spe­zi­fi­scher Lo­ka­li­täten angegangen werden kann.

Die hier gezeigten Skizzen versuchen zunächst nur, Gewöhnliches, Alltägliches, Typisches oder Banales zu erfassen und orientieren sich damit am ganzen Wortfeld um ›normal‹. Ihnen liegt die Annahme zugrunde, dass das ›Nicht-Normale‹ über quasi ›natürliche‹ Massnahmen in Normalität überführt wird: es braucht nicht nur Wohnungen, die einem (imaginierten, statistisch erhobenen) zeitgemässen Lebensstil entsprechen, es braucht auch Farben, Grünflächen, Wege, Wegweisungen, Beschriftungstafeln, Papierkörbe, Sitzbänke, Erdgeschossnutzungen, Verkehrsberuhigungen, Strassen- und Platzbeleuchtungen. Dass all dies arbiträr ist, ist nur für den behutsamen und kritischen Blick erkennbar.
Die Skizzen können einer Reihe von Adjektiven in etymologischer, semantischer oder konnotativer Nähe zu ›normal‹ zugeordnet werden. Dies soll neue Fragen aufwerfen: Wie konkret muss eine Wahrnehmung sein? Wie präzis die Begrifflichkeit, die ihre Unterscheidungen stützt? Um Nicht-Übliches (Nicht-Normales wäre zu stark) zu signalisieren oder Gewöhnliches so herauszuheben, dass es kenntlich und befragbar wird, müssen die Verhältnisse unterschieden werden können, in denen sich das Konkrete formiert. Wie kann es mitgeteilt (dargestellt, gezeigt) werden?

Mitgearbeitet haben Delphine Chapuis-Schmitz, Sereina Deplazes, Katja Gläss, Michael Guggenheim, Nicole Henning, Frank Hyde-Antwi, Nuria Krämer, Patrick Müller, Patricia Nocon, Irene Vögeli und Carmen Weisskopf.

  1. Das Schweizer Fernsehen SRF widmete dem Quartier kürzlich eine zehnstündige Live-Sendung: «Zürich West by Night», 15.6. 2013
  2. Nationalrätin Jacqueline Badran in einem Interview mit westnetz.ch (Quartierplattform Kreis 5) vom 5. September 2012 (http://www.westnetz.ch/story/zuerich-west-ist-ein-reichenghetto)
  3. So der Titel der vom Mieterverband bei INURA in Auftrag gegebenen, kürzlich erschienenen Studie zur Entwicklung von Zürich West (INURA, Dr. Philipp Klaus: Immo Dorado Zürich West – Bilanz 2013, Eine Publikation des Mieterinnen- und Mieterverbandes Zürich).
  4. Vgl. Image-Broschüre Wohnhaus Zölli, hgg. durch die Bauherrschaft Losinger Marazzi AG, Stand Februar 2012.
  5. Vgl. etwa den Artikel »Leere Wohnungen in Zürich-West« von Irène Troxler, NZZ 25. Januar 2014
  6. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen 2009 (3. Auflage

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.