Zukunft bedenken und Zukunft stiften. Kriterien der Nachhaltigkeit zeitgenössischer Kunstprojekte im öffentlichen Raum

Kunst zum Leben, No 3.

In den letzten Jahren wurde in zahlreichen Ausstellungen, Symposien und Konferenzen über die Beziehung zwischen Kunst und Stadt, Partizipation und Öffentlichkeit nachgedacht. Häufig wurden temporäre, experimentelle und spielerische Formen der Stadtnutzung erprobt und diskutiert. Als Kuratorin des Kunstparcours »Lost in Tugium« in der Stadt Zug konnte ich im Herbst 2012 selbst Erfahrungen mit einem Ausstellungsprojekt im öffentlichen Raum gewinnen. Wichtiger Bestandteil des Ausstellungskonzepts war dabei das Miteinbeziehen der Bevölkerung aller Quartiere der Stadt und deren Teilhabe an der Produktion, Durchführung und Rezeption einzelner Kunstprojekte. Ich habe dieses Ausstellungsprojekt als Ausgangspunkt1 genommen für die Recherchen meiner Masterthesis an der Zürcher Hochschule der Künste und meine Fragestellung darauf konzentriert, wie temporäre künstlerische Ausstellungsprojekte in einer Stadt kulturell, sozial und politisch2 nachhaltig wirken können. »Stadt« als Adressat meint in erster Linie die städtische Gesellschaft –  Menschen, die die Stadt bewohnen, besuchen, passieren, hier studieren oder arbeiten – wobei die Mitarbeiter der Stadtverwaltung genauso eingeschlossen werden wie die Ausstellungsmachenden selbst. Wenn ich hier nun über die Nachhaltigkeit von Ausstellungsprojekten schreibe, verstehe ich als »Zukunft bedenken und Zukunft stiften«3. Es bedeutet, in Kreisläufen und Prozessen zu planen und zu handeln und dabei kulturelle Werte4 zu entwickeln, die nicht zerstörerisch sind. Dies kann durch Bewahren, aber auch durch Infragestellen und Innovation geschehen.
Die Erkenntnisse meiner Forschung basieren auf einer internen Evaluation5 von »Lost in Tugium« sowie auf der Analyse von drei weiteren partizipatorischen Ausstellungsprojekten im öffentlichen Raum: »Track« (Gent, 2012), »Hacking the City« (Essen, 2010) sowie »Playing the City« (Frankfurt, 2009/2010/2011). Das angefügte Schema gibt einen Überblick über die Erkenntnisse der Analyse und die von mir als konstitutiv definierten Nachhaltigkeitskriterien. Als Chance einer Bewertung von Ausstellungsprojekten nach Kriterien der Nachhaltigkeit betrachte ich die Möglichkeit einer alternativen Bewertung anstelle der herkömmlichen Evaluationen von Ausstellungen anhand von Besucherzahlen oder Werkankäufen, und deren Potenzial, kulturpolitisch einen Einfluss auf Förderstrategien zu nehmen.

Ich möchte im folgenden anhand eines künstlerischen Projekts exemplarisch aufzeigen, auf welchen Ebenen und mittels welcher Verfahren Nachhaltigkeit generiert werden kann.
Der Künstler Luca Degunda hat für »Lost in Tugium« dem historisch bedeutenden Zuger Pulverturm eine »Nase« aufgesetzt – eine skulpturale Installation von mehr als zwei Metern Höhe – und diesem so eine neue Geschichte eingeschrieben.6

Installation »Die Nase« von Luca Degunda, Kunstparcours »Lost in Tugium«, Zug 2012.

Installation »Die Nase« von Luca Degunda, Kunstparcours »Lost in Tugium«, Zug 2012.

Degunda verwies damit auf sprachliche Redewendungen und Ausdrücke, die sich auf die Nase beziehen – so kann man immer der Nase nach gehen, man ist anderen eine Nasenlänge voraus, und manchmal sieht man nicht bis zur eigenen Nasenspitze, auch wenn man etwas direkt vor der Nase hat. In der Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum sollte die Stadtbevölkerung herausfinden und artikulieren, wie sie ihre Stadt sehen und wie sie ihre Stadt haben möchten. Dass dieser Dialog nachhaltig geführt wurde, verdankte sich nicht zuletzt einer Interpellation eines Politikers der Schweizerischen Volkspartei, der bemängelte, dass diese Nase auch nach Ende der Ausstellung noch am Turm hängen blieb und so das kulturträchtige Gebäude verschandele. Indem diese Äusserungen an die Medien weitergereicht wurden, entspannte sich in der Bevölkerung rasch eine Debatte über die Erwartungen an zeitgenössische Kunst im öffentlichen Raum, wobei Fragen nach der Funktion und der angemessenen Ausstellungsdauer von Kunstwerken diskutiert wurden. Die Zuger »Turm-Nase« wurde medial kurzerhand zum Politikum erklärt, und auch der Umzug der von der Stadt angekauften »Nase« an einen neuen Standort in der Presse eifrig kommentiert. Es gelang diesem Projekt dank seinem Symbolcharakter, der Thematik der Kunst im öffentlichen Raum nachhaltig Aufmerksamkeit und Aktualität zu geben. »Die Nase« löste Kontroversen aus, förderte den Dissens und trieb die Meinungsbildung in der Bevölkerung voran, die bis heute anhält. Nachhaltig war dieses Projekt aber auch durch sein Potential, die Wahrnehmung der Stadt zu verändern, der Stadt ein neues Gesicht zu geben, einen geschichtlichen Ort neu zu markieren, zur Orientierung beizutragen und eine zusätzliche Erfahrungsdimension durch Erinnerung zu eröffnen. Stellte sich nach dem Abbau der Nase bei einigen Betrachtern des Pulverturms ein Gefühl der »Lücke« ein, so bot die Hängung der »Nase« an ihrem neuen Standort, einem Verwaltungsgebäude in der Innenstadt, ganz neue Möglichkeiten, nachhaltig zu wirken.
Für das künstlerische Ausstellungsprojekt »Reactivate! Art in Public Space« (2013)7, welches zum Ziel hatte, schon existierende Kunstwerke im Zuger Stadtraum durch künstlerische Bespielungen »wiederzubeleben« und zur Diskussion zu stellen, bot »die Nase« mehreren Kunstschaffenden ein ideales Werk zur Neuinterpretation8.
Der Künstler Hanswalter Graf nahm die Nase als Ausgangspunkt für sein partizipatorisches Mitwirkungsprojekt »Fertig machen!«. Mitarbeitende der Zuger Stadtverwaltung befassten sich dabei in unterschiedlicher Zusammensetzung mit ihrem Arbeitsort und dessen Fassadeninstallation »Die Nase«.

Künstlerisches Mitwirkungsprojekt »Fertig machen!« von Hanswalter Graf, Ausstellungsprojekt »Reactivate! Art in Public Space«, Zug 2013.

Künstlerisches Mitwirkungsprojekt »Fertig machen!« von Hanswalter Graf, Ausstellungsprojekt »Reactivate! Art in Public Space«, Zug 2013.

Die zentrale Frage stellte sich, inwiefern die Nase mit den Inhalten des Hauses und mit den Anliegen der Benutzer verlinkt, und wie die Installation weiter gedacht und »fertig gemacht« werden kann. Zur Annäherung an eine mögliche Antwort wurden in mehreren Workshops flüchtige Skizzen, Installationen, Modelle und Fotografien mit der eigenen Nase als Hauptdarstellerin erarbeitet. Als Resultat entstand ein ebenso skizzenhafter wie improvisierter Fassadenfries aus Klebefolie am Bürohaus – dieser war einerseits die Fortsetzung von Degundas Installation, andererseits aber auch eine Art Filmstreifen, der aufzeigte, dass die Zuger Stadtverwaltung durchaus befreit denken und planen kann. Gleichzeitig wurden so die Bedürfnisse und Forderungen der Mitarbeitenden kunstvoll öffentlich gemacht: zum Beispiel einen einfacheren Zugang und eine bessere Nutzung der Dachterrasse durch einen Fassadenlift oder Pavillon, so dass ein neuer Treffpunkt für Pausen und zum Mittagessen entstehen kann, eine grössere Anzahl von Veloparkplätzen oder neue Duschmöglichkeiten im Haus. Ob die entwickelten Ideen schliesslich umgesetzt werden und so das Projekt wirklich »fertig gemacht« wird, diskutiert man nun in der Stadtverwaltung weiter. Das Projekt kann also im besten Fall zu Veränderung führen und mit Innovation einhergehen. Eine nachhaltig veränderte Wahrnehmung des eigenen Arbeitsortes und des gewohnten Umfeldes fand aber auf jeden Fall statt. Nachhaltig wirkte »Fertig machen!« aber vor allem durch die intensive Zusammenarbeit der Verwaltungsmitarbeitenden aus den unterschiedlichsten Departementen und Disziplinen, die bisher trotz des gleichen Arbeitsorts und ähnlichen Arbeitszeiten wenig Kontakt im Alltag hatten.

Künstlerisches Mitwirkungsprojekt »Fertig machen!« von Hanswalter Graf, Ausstellungsprojekt »Reactivate! Art in Public Space«, Zug 2013.

Künstlerisches Mitwirkungsprojekt »Fertig machen!« von Hanswalter Graf, Ausstellungsprojekt »Reactivate! Art in Public Space«, Zug 2013.

So konnte eine Dynamik entstehen, die auf Synergien der unterschiedlichen Disziplinen beruhte, wobei jedes Feld das andere kontextualisierte und hinterfragte. Durch kollektives Handeln wurde ein gemeinsames Ziel angestrebt, was den Zusammenhalt unter den Mitarbeitern stärkte. Durch das Ausbilden von neuen Netzwerken wurde intern der Austausch und die Kommunikation gefördert. Solche Netzwerke sind sehr nachhaltig, da sie hochflexibel sind und sich besonders gut dafür eignen, auf neue Prozesse zu reagieren.

Neben der Vernetzung und der Veränderung ist jedoch noch ein weiteres Kriterium für die Nachhaltigkeit zentral: deren Messbarkeit. Um Ausstellungsprojekte auf ihre Nachhaltigkeit hin zu evaluieren, bedarf es Masseinheiten, wie diese aus den Naturwissenschaften bekannt sind. Dazu braucht es qualitative und quantitative Messungen von vorher festgelegten Zielen und eine Ausarbeitung von Indikatoren. Eine rationale und reproduzierbare Bewertung ist allerdings schwierig umzusetzen und lässt sich mit der Kunst nur schwer vereinbaren.
Einen möglichen Ansatz zur Vermessung bilden künstlerische und wissenschaftliche Analysen von eigens dafür geschaffenen Ausstellungsprojekten respektive Situationen, wobei gemeinsam nach Nachhaltigkeitskriterien wie der Herstellung von Verbindungen und Handlungsräumen geforscht wird. Zum Nachhaltigkeitsdiskurs trägt nicht zuletzt auch ein reflexives Kuratieren bei. Eine Offenlegung von Prozessen und Strukturen und das Thematisieren von Erfolgen respektive Misserfolgen, Inspirationen wie auch Referenzen verhilft zu einer besseren und nachhaltigen Bewertung und Vergleichbarkeit von Ausstellungsprojekten. Diese Erkenntnisse können in eine Publikation einfliessen oder in einem Blog thematisiert werden.

Abschliessend möchte ich das Ausstellungsprojekt »Herrliche Zeiten!« erwähnen, welches im Sommer 2014 in Zug stattfinden wird und die Möglichkeiten der Nutzung und Aneignung von öffentlichen Räumen durch die Bevölkerung untersucht. Vor, während und nach dem eigentlichen Ausstellungsprojekt (mit künstlerischen Interventionen, Installationen und  Mitwirkungsprojekten) sollen Zustände, Aktivitäten, Prozesse und Veränderungen auf Zuger Plätzen und Strassen durch künstlerische Projekte wie auch durch kulturwissenschaftliche Methoden erforscht und verglichen werden. Quantitativ lassen sich Fragen nach Nutzung, Privatisierung und Erschliessung neuer Handlungsräume durch teilnehmende Beobachtungen sowie Recherchen zu Eigentums- und Rechtskonstruktionen untersuchen. Ausschlaggebend für das Befinden der Bevölkerung und  die »Lebendigkeit« einer Stadt ist jedoch die Qualität der öffentlichen Räume, das heisst, ob Menschen sich in grösserer Zahl von diesen angezogen fühlen, ob sie diese betreten und in ihnen etwas beginnen, etwas ausleben möchten.9 Beurteilen lässt sich eine solche Qualität nur, wenn die Erwartungen an einen Raum bekannt sind. Mittels qualitativer Interviews mit Bewohnenden und Besuchenden der Stadt Zug sollen die unterschiedlichen Bedürfnisse geklärt und das Potential von Kunstprojekten untersucht werden. Zentral dabei sind Fragen nach Möglichkeiten, der Bevölkerung eine Stimme zu verleihen, Dialoge unter bisher unverbundenen Gruppen und Dingen herzustellen wie auch Kooperationen zu ermöglichen, die über die Dauer des Projekts hinaus wirksam sind.

  1. Die interne Evaluation basierte auf Selbstbefragung sowie Interviews mit der Kulturbeauftragten, der Kunstvermittlerin, der Stadtentwicklerin, dem Stadtpräsidenten sowie BewohnerInnen der Stadt Zug, wobei eine multiperspektivische Sicht auf das Projekt erhalten werden konnte.
  2. Für die Definition von Nachhaltigkeit wird meist das Drei-Säulenmodell verwendet. Das Modell geht davon aus, dass nachhaltige Entwicklung nur durch das gleichzeitige und gleichberechtigte Umsetzen ökologischer, gesellschaftlich-sozialer und ökonomischer Ziele erreicht werden kann. Ich habe mich in meiner Analyse auf die Nachhaltigkeit im gesellschaftlich-sozialen Bereich konzentriert, wohlwissend, dass Nachhaltigkeit stets im Zusammenspiel mit ökologischer und ökonomischer Nachhaltigkeit betrachtet werden muss.
  3. Vgl. Kurt, Hildegard; Wagner, Bernd (2002): Kultur – Kunst – Nachhaltigkeit. Die Bedeutung von Kultur für das Leitbild Nachhaltige Entwicklung, Kulturpolitische Gesellschaft e.V., Essen, Klartext Verlag, S. 66.
  4. Im Sinne von »Nachhalt« sind dabei diejenigen Werte gemeint, die fortdauern, wenn alles andere nicht mehr dauert. Sie lassen sich über Vernetzung, Veränderung und Messbarkeit definieren.
  5. Es wurden qualitative, teilstandardisierte Leitfaden-Interviews mit den KuratorInnen der Ausstellungsprojekte geführt und eine ausführliche Presse- und Programmanalyse durchgeführt. Durch eine induktive Vorgehensweise konnten fünf Kategorien der Nachhaltigkeit gewonnen werden: Strukturen, Produkte, Beziehungen, Aufmerksamkeit und Weiterentwicklungen. Diese fünf Kategorien wurden auf Kriterien der Nachhaltigkeit untersucht. Trotz Diversifikation konnten Gemeinsamkeiten innerhalb der Kategorien gefunden werden. So weisen alle fünf Kategorien maximal viele Verknüpfungen und Bezüge zu den drei Kriterien »Verbindungen«, »Handlungsräume« sowie »(Selbst-)Reflexion« auf.
  6. Die Originalgeschichte handelt von Freischärlern aus Schwyz, Zug und Uri, die sich an der Fasnacht von 1477 zum Zuge des »torechten Lebens« zusammenschlossen und deren gemeinsame Flagge einen Eber darstellte, weswegen ihre berüchtigten Raubaktionen in Genf auch »Saubannerzüge« genannt wurden. Die Nase am Pulverturm erzählt nun von einer fiktiven Reise in das ferne Ägypten. Von dort kamen sie mit der gestohlenen Nase der Sphynx nach Hause, einem Souvenir, welches auch Jahrhunderte später die Prosperität und die guten Handelsbeziehungen der Stadt widerspiegelt.
  7. »Reactivate! Art in Public Space« könnte man als Gesamtprojekt bereits als nachhaltig einstufen, benutzte es doch bereits bestehende Kunstwerke sowie Erfahrungen und Netzwerke der vorangehenden Ausstellungsprojekte im öffentlichen Raum der Stadt Zug.
  8. »Die Nase« von Luca Degunda war neben dem im Folgenden beschriebenen Projekt von Hanswalter Graf auch Referenzpunkt für den »Kunstkiosk«, einem mobilen Posthäuschen und Atelier, welches vom Künstlerpaar  Christine Bänninger und Peti Wiskemann als Arbeitsort genutzt wurde, um sich von den bereits existierenden Kunstwerken inspirieren zu lassen, was zu einer Produktion von Postkarten führte, welche »Die Nase« neu interpretierte und kontextualisierte. Diese Postkarten konnten von Passanten gekauft und beschrieben werden; danach wurden sie von den Kunstschaffenden direkt versandt und um die Welt geschickt.
  9. Siehe Rauterberg, Hanno: Wir sind die Stadt! Urbanes Leben in der Digitalmoderne (2013), Berlin, Edition suhrkamp, S. 133.
Verschlagwortet mitKunst zum Leben, No 3.

Über Carole Kambli

Carole Kambli ist freischaffende Kuratorin, Kulturvermittlerin und wissenschaftliche Forscherin im Bereich Kunst im öffentlichen Raum und Urbanistik. Sie hat Pharmazie und später Kunstgeschichte und Kulturwissenschaft studiert und an der Zürcher Hochschule der Künste mit dem Master of Arts / Art Education abgeschlossen. Ihr Forschungsprojekt «Activate the City. Ausstellungsprojekte im öffentlichen Raum und ihre nachhaltige Wirkung auf die Stadt» wurde 2013 vom AV Akademikerverlag Saarbrücken publiziert.

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