Le Corbusier revisited: Die »ville contemporaine« und ihr möglicher Beitrag zu einer »Geschichte der Gegenwart«

Kunst – Stadt – Normalität, No 4.

1924 veröffentlicht Le Corbusier das Buch »Urbanisme«, in dem der Architekt seine Vorstellungen einer zeitgemäßen Stadt zusammenfasst. In der Tat handelt es sich um ein faszinierendes Dokument – und zwar nicht nur als corpus delicti hochmodernen Größenwahns, sondern auch und gerade aufgrund seines innovativen Medieneinsatzes: Luftaufnahmen der verwinkelten Gassen im Pariser Zentrum werden neben Planzeichnungen für ein neues, funktionales Quartier montiert, sodass der Begriff städtebaulicher (Un-)Ordnung in einen sinnlich erfahrbaren Kontrast überführt wird; Abbildungen physiologischer Zusammenhänge des Herz-Lungen-Systems verdeutlichen die »unmittelbare[n], pünktliche[n] und rasche[n] Verbindungen zwischen zwei unabhängigen Funktionen« (Le Corbusier 1979: 260), welche reibungslose Mobilität gewährleisten sollen; schließlich suggeriert die umfangreiche Verwendung statistischer bzw. prognostischer Wissensbestände – insbesondere deren Visualisierung durch Zeitleisten und Wachstumskurven – eine Krise der existierenden Großstädte, die unmittelbare und radikale Interventionen erforderlich macht. Le Corbusier schlägt demgegenüber den Idealtypus einer funktionalen, effizienten und geordneten Großstadt vor, wie er sich auch in den Grundsätzen der »Charta von Athen« widerspiegelt und der mit dem Ende der architektonischen Moderne spätestens ab den 1970er Jahren zunehmend Kritik auf sich zog – nicht zuletzt aufgrund der autoritären Implikationen des Planers als social engineer.
Während diese – in vielerlei Hinsicht berechtigte – normative Kritik bereits so gründlich geleistet wurde, dass sie heutzutage mitunter spiegelfechterische Züge trägt, steht eine andere Form der Kritik noch aus, und zwar diejenige, welche Le Corbusiers Pläne auf der Grundlage ihrer spezifischen Episteme, also im Foucaultschen Sinne eines historischen Apriori des Sagbaren, analysiert. Eine solche Kritik würde darauf verzichten, das Projekt einer zeitgemäßen Stadt als Hirngespinst urbanistischer Omnipotenz zu disqualifizieren – diese Geste enthielte ja bereits die Affirmation, in einer ganz anderen Gegenwart zu leben – und stattdessen untersuchen, wie und auf Grundlage welcher Wissensbestände Le Corbusiers Vorhaben Evidenz erlangen konnte. Dieses Vorgehen würde die »ville contemporaine« von ihrem Schöpfer emanzipieren und so auch dazu beitragen, sie über Stil- und Epochengrenzen hinweg für eine kritische Gegenwartsanalyse fruchtbar zu machen. Anhand des bereits erwähnten Einsatzes statistischer Erhebungen soll an dieser Stelle angedeutet werden, wie eine solche Kritik aussehen könnte.

Automobilverkehrneu

Quelle: Le Corbusier 1979, S. 213.

Die Krise des Wachstums als Krise des Normalismus
Die Krise ist vorhanden (unnötig, es noch zu betonen, man erlebt die unheilvollen Folgen in allen Großstädten). Doch man muß die Fieberkurve der Krise betrachten und zugeben, daß sie schwindelerregend ansteigt. Man läuft in eine Sackgasse (ebd.: 85)
– so Le Corbusiers Kommentar zu Abbildungen wie der folgenden (dargestellt werden Zunahme von Automobilverkehr und Bevölkerung):

Hier ebenso wie an anderen Stellen basiert die Evidenz auf dem visuellen Effekt exponentiell ansteigender Graphen und Zahlenreihen. Die Gleichsetzung mit einer Fieberkurve deckt sich durchaus mit dem pathologisierenden Vokabular, das Le Corbusier auch an anderen Stellen verwendet, um auf die Aporien der existierenden Großstädte hinzuweisen. Es ist indes nicht allein die Exponentialität des jeweiligen Wachstums, die von einer Krise kündet – im Gegenteil begrüßt Le Corbusier mehrfach die Dynamik des technischen Fortschritts und das mit ihr sich ankündigende neue Zeitalter. Vielmehr ist es die Diskrepanz zwischen einer obsoleten Infrastruktur und den modernen Entwicklungen in Industrie und Technik, die zur Bedrohung der zeitgenössischen Metropole wird. Im Falle des Autoaufkommens resultiert die Krise somit nicht unmittelbar aus einem exponentiell ansteigenden Graphen, der die Verkehrsintensität repräsentiert, sondern aus dessen Missverhältnis zu einem linear ansteigenden Graphen, der den (offensichtlich zu gemächlichen) Ausbau der Straßenflächen darstellt:

Verbreiterung der Strassen

Quelle: Le Corbusier 1979, S. 101.

Ähnlich verhält es sich im Fall der wachsenden Bevölkerung: Die »Fieberkurve« zeigt steil nach oben und trifft auf eine bauliche Umgebung, die auf einen solchen Andrang nicht vorbereitet ist. Allerdings ist die räumliche Konfiguration des Problems eine andere: Anhand der Bevölkerungsstatistiken unterschiedlicher Bezirke und Vororte von Paris verdeutlicht Le Corbusier eine exponentiell wachsende Bevölkerung in der Banlieue, während sie in den innerstädtischen Quartieren tendenziell zurückgeht. Le Corbusier überträgt die erhobenen Daten der Bevölkerungsentwicklung außerdem auf eine Karte des Pariser Ballungsraums unter der programmatischen Überschrift »DAS GESCHÄFTSLEBEN STÜRZT SICH IN DAS ZENTRUM DER GROSSSTÄDTE« (ebd.: 99).

Seine-Departement

Quelle: Le Corbusier 1979, S. 99.

Im gegebenen Kontext ist es darüber hinaus wesentlich, dass die Statistiken eine explizit prognostische Funktion erfüllen. Die »unheilvollen Folgen«, die man »in allen Großstädten« erleben könne – Überbevölkerung, Luftverschmutzung, Verkehrsbelastung – mögen auf eine Krise hindeuten, eignen sich per se aber nicht als Grundlage zur Artikulation eines städtebaulichen Programms. Erst die statistische Operationalisierung des Datenmaterials erlaubt konkrete Aussagen über zukünftige Entwicklungen und indiziert gleichzeitig die adäquate Form der Intervention:

Die Statistik gibt die genaue Lage im gegenwärtigen Augenblick an, doch ebenso auch die früheren Zustände; und sie setzt sie untereinander durch eine so ausdrucksvolle Linie in Beziehung, daß man über die Vergangenheit ein ganz endgültiges Gefühl gewinnt und, folgt man dem Gefüge der Kurve, in die Zukunft dringen und Sicherheiten vorwegnehmen kann. Der Dichter stellt so seinen Kurs fest durch ein Bündel von Wahrheiten, die unerläßlich sind für die Sicherheit der von uns zu vollführenden Taten (ebd.: 94).

Weiterhin ist es signifikant, wie Le Corbusier den Herausforderungen des gestiegenen Verkehrs, der anwachsenden Bevölkerung und der veränderten Rolle der Großstadt begegnet: Er fordert weder eine Politik der Bevölkerungskontrolle noch eine Einschränkung des Individualverkehrs – im Gegenteil repräsentieren die (tendenziell ins Unendliche strebenden) Wachstumskurven jene normative Kraft des Faktischen, an denen sich die Strukturen der Stadt auszurichten haben. Mehr noch: Le Corbusier operationalisiert die Ergebnisse der statistischen Erhebungen so erdrückend apodiktisch, dass sich jegliche Diskussion der sozialtheoretischen Axiome erübrigt – diese Reflexionsstufe ist schlichtweg nicht vorgesehen. Der industrielle Fortschritt steht der Gesellschaft als verdinglichte Tatsache gegenüber und die Alternative besteht lediglich in der Frage, ob er als »Naturgewalt« die europäischen Metropolen ins Verderben stürzt oder, zum Wohle aller, bezähmt, kanalisiert und organisiert werden kann. In jedem Fall repräsentiert er die unabhängige Variable, aus der sich mit strenger Notwendigkeit die gebotenen Interventionen herleiten lassen.
Die Beobachtung eines exponentiellen Wachstums bzw. des Auseinandertretens zweier Faktoren (Entwicklung von Bevölkerung/Verkehr im Verhältnis zur Entwicklung der urbanen Infrastruktur), die sich zuvor lange Zeit in einem Stadium relativer Ausgeglichenheit befanden, lässt sich als ein spezifisch modernes Phänomen beschreiben. Sie basiert auf der Auswertung von Massendaten, deren erstmalige systematische Erhebung mit der Genese des modernen Nationalstaats zusammenfällt. Jürgen Link konstatiert außerdem die Entstehung eines neuen Phänomens, des Normalismus:

Die Emergenz des Normalismus fällt […] nicht zufällig mit dem take-off der modernen, symbolisch exponentiellen Wachstumsdynamiken zusammen. Beides steht vielmehr in einem funktionalen Zusammenhang […]: Der Normalismus stellt Dispositive kompensierender Ver-Sicherung (Sicherheit) gegen Risiken eines hyperdynamischen, symbolisch exponentiellen Wachstums zur Verfügung. Wenn man die zahlreichen Wachstumskurven der Moderne symbolisch als Fortschrittskurve zusammenfaßt, dann haben wir es mit einer engen strukturellen Symbiose zwischen Fortschrittskurve und ihrer normalistischen Ver-Sicherung zu tun […]. Anders gesagt: Soll der Fortschritt nicht aus dem Ruder laufen, muß er ständig normalisiert werden (Link 2009: 39).

Der Normalismus ist demnach wesentlich eine Konsequenz der Entdeckung der »Normalität« zunächst als medizinische bzw. demographische Kategorie, die sukzessive in andere, alltäglichere Diskurse diffundiert. Normalität ist mithin keine objektive Tatsache, sondern ein dynamischer und variabler Signifikant, der nicht nur zu einem konkreten historischen Zeitpunkt die Bühne des Sagbaren betritt, sondern dessen Bedeutung auch permanent umkämpft ist. Auch bei Le Corbusier lässt sich eine »normalistische« Argumentation ausmachen, die allerdings, wie bereits angesprochen, Wachstum nur als verdinglichten und potentiell ins Unendliche strebenden Prozess abbilden kann.
Im Anschluss hieran lautet die Frage, inwiefern das statistische Material, mit dem Le Corbusier seine Argumentation fundiert, planerisch überhaupt operationalisierbar ist. Mit anderen Worten: Die Großstadt als Phänomen, das in seinen eigenen Worten »alle Prophezeiungen zuschande gemacht« hat, wird durch diese neue Datenbasis kein Stück beherrschbarer – zumindest, so lange der Exponentialität des (Wirtschafts-)Wachstums nicht mit ordnungspolitischen Maßnahmen begegnet werden darf. Es ist im Gegenteil davon auszugehen, dass jede gebaute Infrastruktur, und sei sie noch so leistungsfähig, angesichts dieser enormen Dynamik zu einem bestimmten Zeitpunkt an ihre Grenzen geraten muss – und zwar obwohl es sich schon dahingehend um unterkomplexe Prognosen handelt, als sie eine mögliche Veränderung gesellschaftlicher Bedürfnisse an keiner Stelle berücksichtigen.

Eine am Reißbrett entworfene Planstadt, wie Le Corbusier sie mit der »ville contemporaine« vorschlägt, könnte in diesem Kontext zwar punktuell Freiräume für Wachstumsprozesse offenhalten, müsste darüber hinaus aber in ihrer Ganzheit als Provisorium gelten, dessen Konzept im Zweifelsfall zur Disposition gestellt werden kann. Es besteht Anlass zum Zweifel, ob Le Corbusier für solcherlei Argumente zugänglich gewesen wäre.

Welche Kritik?
Anhand der bisherigen Überlegungen sollte deutlich geworden sein, inwiefern die »ville contemporaine« – und die Problematisierung urbaner Wachstumsprozesse, auf der sie konzeptuell basiert – als Effekt einer spezifischen Repräsentation und Interpretation statistischer Datensätze verstanden werden kann. Die ihr zu Grunde liegende Episteme bestünde demnach nicht zuletzt in der historischen Genese eines Staatswissens, das quantifizierbare Artefakte wie »Bevölkerung« und »Verkehr« als solche überhaupt erst hervorbringt. Exponentielle Zuwachsraten künden somit von einer unmittelbar bevorstehenden Krise der Großstadt, der mit drastischen Maßnahmen begegnet werden muss.
Hierin lässt sich eine spezifisch moderne Rationalität der Differenzierung und ordnenden Intervention erkennen; ein Regierungswissen, das, wie James Scott in seinem Klassiker »Seeing Like a State« darlegt, danach trachtet, seine Subjekte »lesbar« zu machen, indem es zunächst Typologien der Repräsentation entwickelt, um in einem zweiten Schritt autoritär gegen all jene Elemente vorzugehen, die im vordefinierten Raster keinen Platz finden. Mit Zygmunt Bauman ließe sich von einer »Dialektik der Ordnung« sprechen, die mit tödlichem Ernst alles Kontingente auszutilgen sucht – und die doch nie ihr erklärtes Ziel erreicht, da die »Unordnung« der Welt keine empirische Tatsache, sondern eine Funktion der Kategorien ist, die zu ihrer Beschreibung herangezogen werden. In diesem Sinne reproduziert Le Corbusier genau jene Aporien, deren »Lösung« er mit großer Geste ankündigt – eine Tatsache, die in nicht unerheblichem Maße aus seiner sozialtheoretischen Unbedarftheit resultiert.
Wie bereits erwähnt, läuft eine solche Kritik allerdings nicht darauf hinaus, die »ville contemporaine« als Prototyp eines naiv-autoritären Modernismus zu enttarnen, sondern vielmehr zu zeigen, in welchem Maße – auch und gerade im Bereich der Stadtplanung – die zur Verwendung kommenden Repräsentationsmedien über die Art der Problematisierung sowie die daraus folgenden Praxen (mit)entscheiden. Die Aufgabe einer architektonisch-städtebaulichen Diskursanalyse würde somit darin bestehen, unseren Blick für die jeweils spezifische historische Ordnung des Sagbaren zu schärfen: Welche Metaphern werden bemüht, wie wird – im wahrsten Sinne des Wortes – das Phänomen des Städtischen verbildlicht? Was für ein Typus von Expertise ist erforderlich, um als legitime Sprecherin auftreten zu können? Welche Querverbindungen zu anderen diskursiven Feldern lassen sich aufzeigen? Lassen sich hegemoniale und minoritäre Positionen ausmachen, und wenn ja, wie steht es um die Genealogie dieses Kräftespiels? Wann und unter welchen Umständen kommt es zu Krisen, Bruchstellen, Rekonfigurationen im Feld des Sagbaren? Indem sie konventionelle Epochen- und Disziplinengrenzen unterwandern, eignen sich solche Fragestellungen in hohem Maße für eine »Geschichte der Gegenwart«, die teleologischen Narrativen ebenso skeptisch gegenübersteht wie allzu schematischen Periodisierungen des Gewesenen, die nicht zuletzt darauf hinauslaufen, das Hier und Jetzt von seiner historischen Gewordenheit zu abstrahieren und so zu fetischisieren.

Anschlüsse: Problematisierungen des Urbanen im 21. Jahrhundert
Inwiefern können uns diese Überlegungen dabei helfen, Problematisierungen des Städtischen im frühen 21. Jahrhundert zu kritisieren – entsprechend des hier vorgeschlagenen Kritikbegriffs, dem es, in den Worten Foucaults, darum geht, »möglichst viele Existenzzeichen« aufzusammeln anstatt »Urteil auf Urteil« zu häufen (vgl. Foucault 1984: 14)? Sicherlich ist dies eine Frage, die den Rahmen dieses Essays bei Weitem sprengen würde; nichtsdestotrotz sollen noch einige mögliche Ansatzpunkte genannt werden, die an anderer Stelle weiter entwickelt werden könnten.

Africa

Quelle: http://news.bbc.co.uk/2/shared/spl/hi/world/06/urbanisation/html/urbanisation.stm, letzter Zugriff 5. Juni 2014.

Da ist zunächst die weit verbreitete Diagnose, das 21. Jahrhundert werde ein »urbanes« sein, da mittlerweile mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in städtischen Ballungsräumen lebt – Chiffre eines irreversiblen Trends, der sich insbesondere in den Metropolen des »globalen Südens« abspielt und Schreckensbilder desperater Moloche ebenso heraufbeschwört wie Hoffnungen auf Modernisierung, Wohlstand und Emanzipation. Eine veritable »Krise« also im Sinne einer Situation, die in einer Katastrophe enden könnte, aber nicht muss.

Wie bei Le Corbusier spielen aggregierte Bevölkerungsdaten eine wesentliche Rolle, um die Dringlichkeit des Phänomens zu verdeutlichen – wenngleich der Fokus mittlerweile nicht mehr auf den europäischen Industrie-, sondern den afrikanischen und asiatischen Megastädten liegt. Die Rede vom »urbanen 21. Jahrhundert« oszilliert somit zwischen der Identifikation eines »globalen« Trends und der Definition regionaler Brennpunkte, die gesteigerter Aufmerksamkeit bedürfen. Gleichzeitig lässt sich die Genese eines neuen Typus von »Experten« beobachten, der – geformt und gefördert durch eine stetig wachsende Anzahl einschlägiger Studiengänge – irgendwo zwischen Ingenieurin, Architekt, Stadtplanerin, Entwicklungshelfer und Demokratiecoach zu verorten ist. Vom utopischen Gestus, der noch bei Le Corbusier ein – zweifellos fragwürdiges – Programm nicht nur räumlicher, sondern auch sozialer Neuordnung dekretierte, ist nicht mehr viel zu bemerken; Pragmatismus, Interdisziplinarität und Multiperspektivität sind stattdessen die Kardinaltugenden, mit denen die Herausforderungen dieses neuen Zeitalters gemeistert werden sollen.

green

Quelle: http://www.intechopen.com/source/html/18723/media/image2.jpeg, letzter Zugriff 5. Juni 2014. © 2011 Steffen Lehmann. Originally published under CC BY-NC-SA 3.0 license. Available from: http://dx.doi.org/10.5772/23957

Dabei ist offensichtlich, dass die Wachstumsproblematik in der Zwischenzeit noch um eine wesentliche Nuance ergänzt wurde: Die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen. Spielen in Le Corbusiers Szenario die »Werke der Natur« nur insofern eine Rolle, als sie ästhetisch-funktionale Idealtypen verkörpern (vgl. Le Corbusier 1979: 258), so haben spätestens die sprichwörtlichen Limits to Growth ein Beschreibungsmodell mehrheitsfähig gemacht, das »Mensch und Umwelt« in ein komplexes und höchst fragiles Austauschverhältnis einbettet, vor dessen Hintergrund ein globaler ökologischer Kollaps plötzlich zu einer bedenklich realen Option wird. Während diese Einsicht nicht in nennenswertem Maße dazu beigetragen hat, auf eine reale Überwindung wachstumsbasierten Wirtschaftens hinzuwirken, so hat sie doch zu dem Ansatz geführt, Ökonomie und Ökologie unter dem Label eines Green New Deal  miteinander zu versöhnen.
Bezeichnenderweise sind die Metropolen des 21. Jahrhunderts von strategischer Bedeutung für die Adepten »nachhaltigen Wachstums«, und zwar in doppelter Hinsicht: Passivhäuser, öffentliche Nahverkehrssysteme und eine dezentralisierte Energieversorgung sollen nicht nur dabei helfen, den Ressourcenverbrauch zu senken – ihre Her- und Bereitstellung würden darüber hinaus Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum generieren. Die Fürsprecherinnen eines solchen Programms betonen darüber hinaus regelmäßig das »holistische« Fundament ihrer Konzepte, was sich häufig in der Visualisierung von Kreisläufen und Interdependenzen niederschlägt.

Karteneu

Quelle: http://freeassociationdesign.files.wordpress.com/2010/08/rb295f4.gif, letzter Zugriff 5. Juni 2014.

Eine weitere prominente – und überaus wirkmächtige – Problematisierung des Städtischen besteht schließlich in der Debatte über global cities und der damit einhergehenden Verbreitung der Netzwerkmetapher. Aus dieser Warte verlieren nationalstaatliche Grenzen tendenziell ihre Relevanz und geben den Blick frei auf einen homogenen globalen Raum, in dem sich Ströme von Menschen, Waren, Kapital und Informationen an bestimmten Knotenpunkten sammeln und von dort aus wieder verteilen. Als global cities können in diesem Sinn Städte bezeichnet werden, die über eine außergewöhnlich große Menge an Verknüpfungen verfügen und insofern besser »vernetzt« sind als andere.

Die Plausibilisierung eines solchen Welt-Bildes hat nicht zuletzt dazu geführt, dass Städte und Metropolregionen zunehmend im Sinne einer globalen Standortkonkurrenz imaginiert und auch regiert werden (sollen). In regelmäßigen Abständen veröffentlichte rankings etablieren neue Kategorien wie alpha, beta und gamma world cities, die traditionelle Vorstellungen von »Zentrum« und »Peripherie« einerseits fortschreiben (in der Führungsriege finden sich nach wie vor überwiegend nordamerikanische und europäische Städte), andererseits in Frage stellen (diverse Metropolregionen aus »Schwellen-« oder »Entwicklungsländern« tauchen ebenfalls auf der Liste auf und stellen den privilegierten Status der ehemaligen kolonialen Zentren in Frage). In jedem Fall hat das global cities-Paradigma einer neuen Form von »Lokalpolitik« Vorschub geleistet, die in Anführungszeichen gesetzt werden sollte, da sie in vielerlei Hinsicht unter der Prämisse eines globalisierten Wettbewerbs um die »besten Köpfe« und die höchsten Investitionen steht – und die genau deswegen immer wieder zu Kontroversen führt und den Claim auf ein »Recht auf Stadt« auch und gerade für diejenigen, die einer solchen Neuordnung des Urbanen im Wege stehen, zu einer höchst aktuellen politischen Frontlinie macht.

Resümee
Wenngleich diese drei Beispiele – das »urbane 21. Jahrhundert«, die »nachhaltige Stadt«, das global city network – die gegenwärtigen »Problematisierungen« des Städtischen in keiner Weise erschöpfend beschreiben (man denke nur an die Debatten über »schrumpfende Städte«, Migration, Sicherheit und Kriminalität…) und darüber hinaus auch nur sehr oberflächlich betrachtet werden konnten, so ist hoffentlich dennoch klar geworden, inwiefern eine diskursanalytisch geschulte Kritik dieser Phänomene – bzw. vielmehr ihrer Repräsentation sowie Illustration – dazu beitragen könnte, ihre jeweilige Episteme zur Sprache zu bringen.

Es geht hierbei nicht darum, die beschriebenen Entwicklungen als bloße »Konstrukte« zu verwerfen – zweifellos handelt es sich bei weltweiter Urbanisierung, steigendem Ressourcenverbrauch und globaler Vernetzung um sehr reale Prozesse, mit denen ein adäquater Umgang gefunden werden muss. Gleichwohl muss deutlich bleiben, dass die hierzu notwendigen Entscheidungen immer auch politischer Natur sind und dass aus dieser Warte allen Narrativen, die ihre Gegenstände mit allzu großer Evidenz und Eindeutigkeit repräsentieren, mit großer Skepsis begegnet werden sollte. Aus heutiger Perspektive stellt es keine Schwierigkeit dar, Le Corbusier Naivität und Kurzsichtigkeit nachzuweisen. Die Frage lautet indes, ob wir Zeitgenössischen tatsächlich zu einem wesentlich differenzierteren Umgang mit unserer urbanen Welt gefunden haben.

 

Quellen

  • Bauman, Zygmunt (2002): Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg: EVA.
  • Foucault, Michel (1984): Der maskierte Philosoph. In: Ders.: Von der Freundschaft. Berlin: Merve, S. 9-24.
  • Le Corbusier (1979): Städtebau. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt.
  • Link, Jürgen (2009): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
  • Scott, James C. (1998): Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed. New Haven, London: Yale University Press.
Verschlagwortet mitKunst – Stadt – Normalität, No 4.

Über Claudio Altenhain

Claudio Altenhain hat Politikwissenschaft und Kulturwissenschaften studiert. Er lebt derzeit in Leipzig.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.