Kontextkomplex: Kunst quer durch hybride Zeit-Räume

Konjunktur und Krise?, No 2

1. Geteilte Zeit-Räume
»Der Mann lächelte. Er sass zwei Sitzreihen vor mir, telefonierte und lächelte. Aufblickend um den Stationsnamen zu entziffern, schaute ich jedes Mal in sein lächelndes Gesicht. Nein, kein Flirt. Für die Dauer eines Telefongesprächs hatte dieses Lächeln eine gleichgültige Aussenseite. Es war nach innen gekehrt und galt jemandem, der oder die an anderer Stelle ein Telefon ans Ohr hielt und auf ein Lächeln lauschte, das eine andere woanders ansah.«

»Herr Fuchs, verstehen Sie mich… Frau Eisert hier – hallooo, hallo! Herr Fuchs? Nein, ich bin im Zug… Herr Fuchs, wir müssten diese Vorlagen noch anpassen, damit Sie die dann schon mal haben… Ich aktualisiere die und dann gucken wir zusammen noch mal drauf. Alles klar? Kriegen wir hin – grossartig! Bis dann Herr Fuchs!«

»Das Au Pair Mädchen aus St. Petersburg lebt seit einem halben Jahr in Hamburg. Sie versteht sich gut mit ihrer Gastfamilie und kommt ihren Aufgaben zuverlässig nach. Freie Zeit verbringt sie in ihrem Zimmer, vor einem Laptop. Über Skype bleibt sie in Verbindung mit Freund/innen und Familie in der Heimat. An mehreren Wochenenden reiste sie in eine kleine Stadt im Nordosten Nordrhein Westfalens, um dort entfernte Verwandte zu treffen und mit ihnen russisch zu sprechen. Ihre Nachbarn in Hamburg hat sie noch nicht kennengelernt. Berlin, die Hauptstadt ihres Gastlandes bedeutet ihr nichts. Sie wird nicht dort hin fahren und nach einem Jahr, ohne viel mehr von Deutschland gesehen zu haben als zwei, drei Strassen in Hamburg und eine Ortschaft in Nordrhein Westfalen, wieder in St. Petersburg ankommen.«

»Im IC zwischen Hamburg und Dortmund: Der junge Mann klappt sofort nach dem Hinsetzen seinen Laptop auf und schaut einen Film, Kopfhörer auf. Ein älterer und ein jüngerer Mann weiter hinten im Abteil kommen ins Gespräch. Der Akzent des Älteren lässt vermuten, er sei aus dem Osten, aber im Laufe des Gesprächs stellt sich heraus, dass er türkischer Herkunft ist und seit 35 Jahren in Deutschland lebt. Eigentlich Elektroingenieur arbeitet er in Düsseldorf bei der Post als Paketzusteller. Während er telefoniert, switcht er in jedem Satz von Deutsch zu Türkisch und zurück. Er ist Gewerkschafter und war gerade auf einer Fortbildung in Kühlungsborn. Der jüngere Mann ist Betriebswirt mit IT-Kenntnissen, er kommt von einem Bewerbungsgespräch und fährt jetzt heim nach Bochum. Sie unterhalten sich über den immer wieder gestörten Empfang im Zug, über technische Geräte wie Akkus, ihre Lade- und Lebenszeiten, über IT und Smartphones. Dann über die Unterschiede zwischen deutschen und türkischen Familientraditionen, über Lebensrisiken bis zu der interessanten These des beredten Paketzustellers, er könne an den Namensschildern der Häuser, in denen er seine Pakete abliefert, sehen, dass auch die deutschen Familien in den letzten Jahren wieder enger zusammen gerückt seien und generationenübergreifend zusammen leben würden. Unterbrochen wird das Gespräch, sobald der ständig gestörte Internetempfang einige Fragmente der Championsleague-Spiele von Bayern München und Galatasaray Istanbul durchlässt. Währenddessen sitzt der junge Mann nebenan immer noch in der gleichen aufrechten, sehr angestrengten Haltung vor seinem Laptop, die  gar nicht zu seinem recht lockeren Outfit passt. Der Film hat offenkundig Überlänge, dehnt sich jetzt schon über drei Fahrtstunden aus.«

Fazit: Alle sind medial beschäftigt, pendeln vielfach zwischen Räumen, Zeiten und Kulturen, während sie in beschleunigter Fahrt die Stunden zwischen Start und Ziel überbrücken.

2. Gefüge öffentlicher Zeit-Räume
»Den öffentlichen Raum« als solchen – mit bestimmtem Artikel – gab es nie. Der öffentliche Raum ist keine homogene Gegebenheit, sondern eine unbestimmt zur Anwendung gegebene Vielheit. So wie dem Öffentlichen zumindest seit Beginn der Neuzeit der das eindeutige Gegenüber fehlt, so ist auch die cartesianische Raumvorstellung seit langem in eine unendliche Vielheit von Zeiträumen implodiert.

Der »öffentliche Raum« war und ist, seit die Begriffskomposition ab dem frühen 19. Jahrhundert seine Karriere machte, ein Geflecht aus realen urbanen Räumen, verschiedensten gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Institutionen und Instanzen, öffentlichen Verkehrsmitteln, aber vor allem aus Zeitungen, Büchern, Broschüren, Theatern und sukzessive bis heute Telegraphen, Telefonen, Kinos, Radio, Fernsehen und Internet. Seit einigen Jahrzehnten nimmt dabei die Vermischung und Hybridisierung dieser medialen öffentlichen Schauplätze massiv zu. Kaum ein medialer »Zeitraum«, der nur noch durch ein originäres eigenes Medium gebildet würde – sei es ein Baumaterial, Papier, Radiowellen, Chips oder Glasfasern.

Das Ineinander und die komplexe Verfugung der medialen Räume wie der gesellschaftlichen Sphären ist durchgängig. Immer und überall unterbrechen private Mitteilungen gemeinschaftlich oder anonym gemeinsam genutzte, mehr oder weniger zugängliche Orte. Die Übergänge zwischen Räumen in öffentlichem wie privatwirtschaftlichem Besitz sind vollkommen fliessend, es gibt sogar Umkehrungen in der öffentlichen Anwendbarkeit. Und der Raum des Politischen ist in der Darstellung Massenmedien seit Jahrzehnten durchzogen von gesellschaftlichen, ökonomischen oder intimen Enthüllungen.

Wer vom »öffentlichen Raum« spricht, muss diese mediale Vervielfältigung und Hybridisierung mitdenken und berücksichtigen, dass die definiten Grenzziehungen zwischen den Sphären des Privaten und des Öffentlichen, des Politischen, des Ökonomischen, des Kulturellen etc. gefallen sind, dass sich vormals getrennte Bereiche ineinander schieben. Öffentlichkeit stellt sich auf komplex verschachtelte Weise zu den abenteuerlichsten Inhalten und Äusserungen quer durch alle medialen Räume der globalisierten Welt her.

Mit der Herstellung von Öffentlichkeit ist allerdings wenig bis nichts über die Relevanz dessen gesagt, was in dieser räumlich und zeitlich gebildeten Öffentlichkeit sichtbar wird, was verhandelt wird. Selbst wer nur wenig surft, kennt die erstaunlichen Wissenstiefen verschiedener Netzplattformen. Aber zugleich erfahren wir täglich bis zum Überdruss auch die unerträglich flachen, massenhaften Öffentlichkeitsherstellungen des Fernsehens.

3. »Öffentlicher Raum« im zeitgenössischen Kunstkontext
Angesichts der komplexen, zersplitterten und transmedialen Wirklichkeitsgefüge wirkt die Rede vom »öffentlichen Raum« im Kunstkontext schnell entweder altbacken oder idealisierend. In der Kunst scheint eine romantische Vorstellung vom »öffentlichen Raum« an sich hartnäckig fortzuleben. Zumindest ist sie seit einigen Jahren zum Ideal einer zeitgenössischen Kunst auf der Suche nach ihrer gesellschaftlichen Relevanz geworden.

Zunächst scheint die Begriffskomposition im Kunstkontext historisch relativ schlicht eingeführt: Sie dient der Klassifizierung von Kunstwerken, die sich ausserhalb von bürgerlichen Kunstinstitutionen und damit meist in städtischen Aussenräumen zeigen. Die Künstler/innen des 20. Jahrhunderts haben den Aussenraum zunächst vor allem als Erweiterung des Museumsraums begriffen, als erweiterte Kulisse, um ihre Kunst breiter zu veröffentlichen und sie so ggf. zu »demokratisieren«. Man brachte, und bringt nach wie vor, Kunst zu den Menschen – ob sie das wollten oder nicht. Passend dazu griff, vor allem in den 1970er Jahren, der Vandalismus an unerwünschten künstlerischen Stadtmöbeln um sich. (Vielleicht wurde auch deshalb mit dem parallel aufkommenden Credo »Kunst für alle« die Kunst wieder verbannt und in den neu gegründeten Institutionen in eine verständliche, niedrigschwellige Sozio- oder Stadtteilkultur überführt.)

Der städtische Aussenraum aber ist eben nur ein Möglichkeitsraum unter anderen zur Herstellung von Öffentlichkeit; ein Raum, in dem dem sich eine Situation ergeben oder ereignen kann, in der etwas öffentlich erfahren, abgelehnt oder angenommen wird. Dass Kunst daran scheitern kann und teilweise daran scheitern muss, versteht sich von selbst.

Das gängige Beispiel für die Herstellung von Öffentlichkeit auf der Strasse ist die Demonstration oder – seit zwei Jahren – das Occupy-Camp. Auch deshalb machen sich die aktuellen Idealisierungen des öffentlichen Raums in der Kunst an dieser Art Öffentlichkeitsherstellungen fest.

Von der auf ästhetische Beglückung zielenden Demokratisierung der Kunst ist man –seit Joseph Beuys in verschiedenen Zyklen – heute wieder bei der Demokratisierung durch Kunst und Agitation gelangt. Die Frage nach der politischen Verantwortung der Kunst innerhalb der globalisierten Welt wird von Künstler/innen vorzugsweise an urbanen Räumen erprobt, die sie als »öffentliche Räume« deuten und durch eine an der Ökonomie orientierte Stadtentwicklung bedroht sehen. Aktuell bemühen sich viele Künstler/innen unter dem Motto »Recht auf Stadt« um die Rettung und den Ausbau der Allmende, weil sie darin eine Möglichkeit für Gerechtigkeit und Glück in der Gesellschaft angelegt sehen.

Künstler/innen wollten und wollen also vor allem Öffentlichkeit über ihre Kunst herstellen oder – sogar noch mehr – eine öffentliche Auseinandersetzung durch ihre Kunst ermöglichen. Es wäre also seit langem präziser, statt von Kunst im öffentlichen Raum von einer Öffentlichkeit im Stadtraum herstellenden Kunst zu sprechen.

Problematisch ist und wird dieses Anliegen allerdings, wenn die Herstellung von Öffentlichkeit lernzielorientiert betrieben wird und bestimmte Formen von Öffentlichkeit ­– meist eine antagonistische, sich selbst ermächtigende, basisdemokratisch gedachte politische Öffentlichkeit – idealisiert werden. Diese Idealisierung legen jedenfalls die Begriffe nahe, die gegenwärtig zur Begründung des ausserinstitutionellen, auf die Herstellung von Öffentlichkeit zielenden ästhetischen Handelns im Umlauf sind: sie verkoppeln »Kunst im Öffentlichen Raum« eng mit Autonomie, Kritik, Emanzipation, Demokratisierung, Subversion bis aktueller Intervention und Partizipation. Das alles sind grosse Worte, wie ihre griechisch-lateinische Herkunft belegt, die den politischen Willen und die guten Absichten der Künstler/innen untermauern sollen, die sich mit ihrer Kunst aus der versichernden Institution hinaus begeben.

Genau diese Versicherung in einem Begriffsregister aber, das zur Hälfte der bürgerlichen Kunstgeschichte entnommen wird und zur anderen Hälfte auf ein aufklärerisches Politikvokabular baut, erscheint uns kompliziert und in vieler Hinsicht den Blick verstellend bis Spielräume verschliessend.

Die genannten Diskursbegriffe setzen nämlich ein emanzipiertes, autonomes, souverän wertendes wie handelndes, aktives, zweifelsfreies, von sich überzeugtes Künstlersubjekt voraus, das für andere und ein besseres Leben im Stadtraum wirkt. Autonome, d.h. nichts anderem als sich selbst verpflichtete Künstler/innen gehen mit Kunst gegen etwas, z.B. die egoistischen wirtschaftlichen Interessen der Stadt an. Durch den Begriff Intervention bekommt dieses Handeln eine latent bedrohliche Dimension. Oder es offenbart sich ein paternalistischer Zug, wenn Künstler/innen bislang vermeintlich weniger emanzipierten, nicht-autonomen Stadtbewohner/innen politische Partizipationsmöglichkeiten durch Kunst anbieten. Und der verwendete Witz ist meist ironisch-subversiv, d.h. er stellt das Bestehende distanziert und belustigend bloss.

Dies ist eine Überzeichnung, aber sie beschreibt eine auffällig häufig anzutreffende Haltung: die aufgeführten Begriffe setzen die Künstler/innen in eine autonome Position der Wissenden, Emanzipierten und wohlmeinend Helfenden, die Unwissende belehren und zum besseren Leben führen wollen.

4. Wechsel des Begriffsregisters
Wir glauben gerade nicht, dass Künstler/innen Expert/innen im politischen Handeln sind, und die anderen Stadtbewohner/innen darin belehren sollten. Wir denken vielmehr, dass sie etwas anderes auszeichnet: Sie leben und arbeiten ebenso verstrickt wie allen anderen inmitten einer komplexen globalen Gesellschaft, aber sie nehmen sich eine breitere, intensivere Wahrnehmungszeit, haben erweiterte Wahrnehmungsfähigkeiten und dazu ein besonderes Wissen um die Geschichte der Kunst und Ästhetik, welche das Alltagswissen der meisten Stadtbewohner/innen überschreiten.

Entsprechend denken wir, dass es an der Zeit ist, das Begriffsregister zu wechseln. Wir jedenfalls verstehen uns als Aufnehmende, Suchende und künstlerisch Antwortende. Wir schauen nicht aus einer Metaposition auf die Gesellschaft oder ihre globalisierten Lebenszusammenhänge, wir wollen und können sie nicht umstürzen oder unterwandern, sondern wir versuchen ­– mittendrin, involviert und ambivalent in die Welt verstrickt – Wirklichkeitsgefüge und Prozesse wahrzunehmen, darzustellen und anders zu gestalten.

Deshalb haben wir allmählich ein anderes begriffliches Register für uns entwickelt – nicht wissentlich, nicht vorab gesetzt, sondern im Handeln, Schritt für Schritt. Ein Register, welches das Denken und das ästhetische Handeln fasst, mit denen wir den komplexen medialen Raum-Zeit-Gefüge begegnen und Denk- oder Spielräume eröffnen.

Wir haben die meist intransitiven, historisch kontaminierten, lateinisch-griechischen Substantive »Kritik«, »Subversion«, »Intervention« und »Partizipation« für uns verabschiedet und uns mehr transitiven und reflexiven Verben zugewandt:

hören

ansprechen

öffnen

engagieren

anwenden

bewegen

verschieben

einlassen

verantworten

versammeln

und – obwohl intransitiv, dafür reflexiv nutzbar –

begegnen.

Alle diese Verben verbindet, dass sie entweder gar nicht oder nur sehr schlecht selbstgenügsam mit einem Subjekt auskommen – Ich engagiere – , sondern immer die Benennung eines Bezugs auf andere, auf Menschen oder Kontexte einfordern; oder dass sie nur reflexiv auf andere oder das Subjekt bezogen sinnvoll werden: Ich engagiere mich. Ich engagiere dich. Das Agens und Patiens erscheinen zusammen. Die gewählten Verben sind zudem meist noch sehr ambivalent im Hinblick auf ihre aktiven wie passiven Anteile. Ich engagiere und ich werde engagiert. Ich höre etwas – etwas dringt in mein Ohr.

Als Beispiel wollen wir kurz vom Hören sprechen.

Der Hörsaal der Universität zeugt von einer alten und eingefahrenen Vorstellung vom Hören: Das Hören auf jemanden. Der Hörsaal ist gebaut für das Hören auf eine Autorität, die am Pult auf dem Podium sitzt, also von erhöhter Position aus spricht und auf die hinunterblickt, die zuhören. Die im Hörsaal verräumlichte Vorstellung ist hierarchisch und erlaubt eigentlich nur zwei Reaktionen: Aufnahme und Zustimmung zur Autorität oder Ablehnung und Aufkündigung des Hörens.

Dass es nicht ausreicht, das Autoritätsgefälle durch räumliche Umbaumassnahmen aufzuheben oder Rochaden zwischen Sprechenden und Hörenden durchzuführen, hat sich über die vergangenen Jahrzehnte deutlich erwiesen. Die Autorität und mithin die Macht dessen, der von einer Institution legitimiert wird vor anderen zu sprechen, ist durch den Abbau des Podiums oder den Rollentausch nicht aufgehoben. Die Angleichung von Sprechenden und Hörenden kaschiert entweder nur ein tatsächliches Gefälle und ist eine nur oberflächliche Pseudo-Gleichheit, oder aber sie bedeutet, wenn radikal gedacht, die dramatische Nivellierung des Sprechniveaus, da dann jeder ungehemmt mit oder ohne Podium lossprechen darf, ohne dass Reflexion, Kenntnis, Wissen oder Erfahrung eingefordert wären. Diese Situation kennen wir ebenfalls zur Genüge, zum Beispiel aus dem Fernsehen.

Der Gang auf das Podium, die Selbst-Ausstellung des Sprechenden, desjenigen der anspricht, ist schwer aber unerlässlich, um sich selbst und alle anderen immer daran zu erinnern, dass man, sobald man vor anderen das Wort ergreift, diesen anderen gegenüber in der Verantwortung ist. Wer vor anderen – mit oder ohne Erhöhung – spricht, muss antworten. Oder genauer: Wer spricht, muss zuvor gehört haben. Sonst wird er/sie nicht gehört. Der Hörsaal und sein Podium – und ähnlich auch jede andere Institution und ihre Präsentationsformen – sind keine Garantie dafür, dass etwas von dem gehört wird, was man hier sagt. (Jede/r, die/der spricht, kennt die unangenehme Erfahrung, dass das Gesagte nicht ankommt).

Wer spricht und mit seinem Sprechen ansprechen möchte – entsprechend könnte man auch sagen, wer Kunst im Offenen vor anderen ohne Absicherung durch eine Kunstinstitution und deren gebildete Öffentlichkeit machen möchte ­– muss zuvor auf dieses Offene gehört haben oder es gesehen haben, und dies in der radikalen Intensität, die der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber in seinem Plädoyer für eine starke Demokratie – eine Demokratie der vielen und starken Stimmen – 1984 einfordert. Denn das Zuhören (oder das Wahrnehmen allgemein) ist nach Barber die zentrale Kunst im (politischen) Gespräch:

»Das Zuhören ist eine wechselseitige Kunst (…) Ein Massstab für ein gelungenes politisches Gespräch ist tatsächlich, wie viel Schweigen es zulässt und fördert, denn das Schweigen ist jenes kostbare Medium, in welchem das Nachdenken gefördert wird und das Einfühlungsvermögen wachsen kann. Ohne das Schweigen gibt es nur das Geschwätz heiserer Interessen und insistierender Rechte im Wettstreit um die tauben Ohren ungeduldiger Gegner. Schon die blosse Vorstellung von Rechten – das Recht zu sprechen, das Recht, Schriftsätze einzureichen, das Recht gehört zu werden, schliesst Schweigen aus.« 1

Wer auf Rechte pocht, mag vielleicht kurzzeitig verstummen, aber er/sie schweigt nicht. Das Schweigen, das Barber anspricht, ist ein ernstes und umfassendes Schweigen. Nur wer auch die innere Stimme, die eigenen Argumente und Denkschemata für den Augenblick des Hörens zum Schweigen bringen kann, der/die kann etwas vernehmen, etwas anderes hören, etwas, das er – oder sie – zuvor noch nicht wusste oder zu wissen vermeinte. In dieser Art »offenen Zurückhaltung« kann ich vom anderen und seinen Worten – und dies gilt gleichermassen von seinen Taten oder kulturellen Produktionen – angesprochen werden; ich kann ich mich erfassen und bewegen lassen.

Das Hören und Wahrnehmen in dieser »offenen Zurückhaltung« begleitet alle ästhetischen Reflexionen und Gestaltungen der »Akademie einer anderen Stadt«, alle unsere Versuche, Denk- und Wahrnehmungsräume zu schaffen. Wir wollen keine Öffentlichkeit für Ziele oder Strategien herstellen, sondern versuchen radikale Öffnungen und Unterbrechungen, die begegnen, die zum Verstummen und in ein anderes Hören und Wahrnehmen der anderen, des Fremden, des noch und nie Gewussten bringen.

  1. Benjamin Barber, Starke Demokratie, Hamburg 1994, S. 171
Verschlagwortet mitKonjunktur und Krise?, No 2

Über Andrea Knobloch & Ute Vorkoeper

Akademie einer anderen Stadt, Hamburg/Düsseldorf: Die Künstlergemeinschaft Akademie einer anderen Stadt wurde 2009 von der bildenden Künstlerin Andrea Knobloch und der Kuratorin, Kunsttheoretikerin und Künstlerin Ute Vorkoeper in Hamburg gegründet. Die künstlerischen Arbeiten und kuratorischen Projekte der Akademie einer anderen Stadt eröffnen unerwartete ästhetische und poetische Denk- und Handlungsräume mitten im städtischen Alltag. Sie verknüpfen Konzentration und Zerstreuung, autonome Schönheit und Anwendung, Engagement und reflexive Distanz. Sie adressieren und involvieren heterogene Öffentlichkeiten quer durch die Stadtgesellschaft. Von 2009 bis 2011 konnte die Akademie einer anderen Stadt als Kunstplattform der Internationalen Bauausstellung IBA Hamburg große Kunstprojekte im Hamburger Stadtraum kuratieren. Aktuell ist liegt ihr Fokus auf prozessualen künstlerischen Arbeiten im Stadtraum wie in der Serie »Freiheit in..«. Im Herbst 2013 gestaltet die Akademie den »Raum für grenzwertige Mitteilungen« im historischen Stadtspeicher in Jena, vgl. www.mitwisser.net

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