Ich bin Musiker. Mir geht es um das, was ich höre und das, was wir zum Klingen bringen. Jahrelang habe ich meine Stadt zunächst mit dem Aufnahmegerät aufgenommen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Im Tonstudio, meistens irgendwo in einem Untergeschoss, hab ich die Aufzeichnungen dann stundenlang angehört und so bearbeitet, damit ich mit diesen Klangregistern live spielen konnte. Davon bin ich vollständig abgekommen. Warum? Live Musik auf der Bühne hat gar nichts mit dem Ort, mit der unmittelbaren Umgebung zu tun. Geräusche aus der Umgebung stören, sie werden entweder laut übertönt oder aufwendig weggefiltert. Das hat mich sehr beunruhigt. Obwohl ich damals mit meiner Band sehr viel gereist war, hielt ich mich akustisch sozusagen immer am selben Ort auf. Nur ganz selten drangen einzelne Rufe, Sirenen oder merkwürdige Klangatmosphären in unsere Soundtracks. Ich wollte hinaus. Es war als ob ich eine Schallmauer durchbrechen müsste.
20 Jahre später hatte ich diese Schallmauer durchbrochen und ich begann mir selber das »Stadthören« beizubringen. Ich entdeckte, dass wir in unserem Alltag professionelle »Weghörer« sind. Damit wir uns auf öffentlichen Plätzen und Strassen überhaupt unterhalten können, müssen wir alle Umgebungsgeräusche wegfiltern. Das machen wir unbewusst und ständig. Deswegen ermüden uns lärmige Strassen und Plätze. Dieses hochaktive und gekonnte ständige Weghören hat uns »hörblind« gemacht. Wir rechnen gar nicht damit, dass ein öffentlicher Raum klingen könnte. Wir haben kein Bild, keinerlei Vorstellung vom Stadtklang. Oft werde ich gefragt, ob Zürich anders klingt als London. Ich könnte zurückfragen ob das Matterhorn wirklich anders aussieht als der Säntis…
Genau im richtigen Moment lernte ich den Stadtbiologen, Historiker und Schriftsteller Stefan Ineichen kennen, der mich einlud an seinem Projekt »Nahreisen« mitzuwirken. Sein Wissen von Lebensräumen kleiner Insekten, Glühwürmchen, Fledermäusen, Wanderfalken und städtischem hochqualitativem Wildhonig hat mich auf völlig neue Wege gebracht, Stadt zu hören.
Fast gleichzeitig erhielt ich von Paul Bauer von »Grün Stadt Zürich« einen Forschungsauftrag, mich um die Klänge der Stadt zu kümmern. Nun konnte ich loslegen, merkte aber bald, dass meine Experimentalmusikerohren gar nicht geeignet waren, mich im ständig wogenden Lärmnebel überhaupt zu orientieren. Wie sollten wir dann je fähig sein, aus diesem Lärmnebel wieder herauszufinden und Stadtklang zusammen zu gestalten? Die Stadt Zürich liegt wie ein grosse Klangschale am unteren Ende des Zürichsees, eingebettet von ideal proportionierten Hügelzügen. Ein grosse Trommel, auf der über 100’000 Menschen gleichzeitig spielen und sich dabei niemals zuhören. Oder ist es jemandem bewusst, der mit dem 33er über die Nordbrücke fährt, dass sein Echo über die Fallätsche gespiegelt genau im Tiefenbrunnen ankommt? Oder kennt jemand das Klangwunder von Zürich? 1200 Brunnen aus mindestens sechs Jahrhunderten erzeugen eine permanente Flüsterkommunikation, die sich über die ganz Stadt erstreckt.
Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der klangliche Reichtum von Echogewölben, Donnerbögen, Klangwirbeln und in den Himmel steigenden Spiralen ist unglaublich.
Die städtischen Klangreichtümer sind aber versteckt, verschüttet und für unsere »Weghörohren« zunächst unauffindbar. Es ist so, als ob wir untertauchen müssten; tief Luft holen und dann drei Minuten lang unmittelbar neben einem Brunnen stehend die Luft anhalten. Tagsüber geht das zum Beispiel sehr gut beim Manessebrunnen. Dann ganz langsam den Kopf drehen und einen kleinen Schritt altstadtwärts machen und nun können wir für einige wenige Ohrenblicke lang das Rauschen des inneren Stadtklangs hören. Hier gibt es ein unsichtbares Tor zum Stadtklang. Man braucht nur ein einziges Mal durch ein solches Klangtor gegangen zu sein, von diesem Moment an wird man nicht mehr aufhören Stadt zu hören oder zumindest Stadt hören zu wollen!
Der urbane Klangnebel, der seit über 150 Jahren die Stadt bedeckt, hält nicht nur alle öffentlichen Hörräume und Klanginseln bedeckt, er verwischt auch alle Zugänge zur gemeinsamen Erinnerung. Ohne dass wir es wirklich merkten, ist es im Lärm still geworden, keine Erinnerung, keine Zukunft.
Öffentliche Klangspaziergänge, die ich fast schon regelmässig veranstalte, sind für mich äusserst inspirierend und stellen für mich einen direkten Eingriff in den Stadtklang dar. Diesen Sommer war ich eingeladen für »Art and the City« eine Serie von Klangspaziergängen im Kreis 5 durchzuführen. Zusammen mit vielen KlangspaziergängerInnen entdeckten wir das Potential des Viaduktes, der mit seinen 63 Bögen seit über hundert Jahren den Grundklang von Züriwest bestimmt. Die Stadt ist sozusagen um diesen eisernen Donner herum gewachsen.
Auf einem der stillgelegten Geleise geht man parallel zum Viadukt auf etwa 8 Meter Höhe quer durch den Kreis 5. Jeder Bogen öffnet eine neue Hörperspektive auf ein anderes Echo: Der Viadukt ist eine permanente grossangelegte städtische Klangraumausstellung. Wir hören den wunderbar gestimmten Klangraum der Josefswiese genauso, wie das permanente Sirren und Summen der Kehrichtverbrennungsanlage, das sich durch die Ritzen und Eingänge aller Bauten im Umkreis von mehreren Hundert Metern schleicht. Regelmässig steigt bei der Eisenbahnbrücke über der Limmat eine donnernde Klangwolke auf und gleitet zwischen den Hausfassaden hindurch in die neuen und alten Hinterhöfe und verebbt bei einer Kinderwagenkleingarage und stillgelegten Parkplätzen.
Hier hören wir nicht nur einzelne Geräusche oder isolierte Klangarenen, sondern wir können hören wie die einzelnen Räume miteinander kommunizieren, wie sie Stadtklang artikulieren. Hier kommen wir dem Geheimnis des Stadtklangs auf die Spur und lernen urbane Bedingungen für klingende Stadträume kennen und ihren Bauplan zu lesen: Ein noch unentdeckter Lehrpfad für angehende urban sound designer.
Denn für mich ist ganz klar: Stadtklang muss vor allem von der Stadtplanung her aufgeschlüsselt werden. Ohne dass es wahrscheinlich je beabsichtigt gewesen wäre, hat der Eisenbahnviadukt, der auf freier Wiese gebaut worden war, die Stadtklangstruktur des Stadtteils bestimmt. Hier können wir lernen, was es heisst einen steinernen Bogen in den freien Raum zu stellen und 100 Jahre später zu hören wie eine solche Schalllinsel den Klangraum artikulieren kann. Hier zeigt sich ein anonymer »plan sonore« der seit 100 Jahren aktiv wirkt.
Zusammen mit dem Urbanisten und Ingenieur Trond Maag konnte ich in den letzten zwei Jahren für die Baudirektion des Kantons Zürich und für das Bundesamt für Umwelt eine ausführliche Forschungsarbeit über unsere Chancen im Lärm entwickeln. Jeder noch so unbeachtete Ort hat überraschende Klangraumpotentiale. Wie wecken wir sie und wie entwickeln wir daraus einen beständigen Klangraum? Klangraumgestaltung wird Lärmbekämpfung ablösen.1
Denn der Klangbrunnen im Schulhaus Gut, die Klangwiese im Orangen Garten in Rüschlikon oder das Klangfeld »Cassiopeia« in der Sportanlage Heerenschürli sind für mich zwar richtige Herzensangelegenheiten, ohne einen öffentlich aktiven »plan sonore« werden diese Klanginseln genauso im Lärmmeer verschwinden, wie sie kurzfristig aufgetaucht waren.
Die permanente Arbeit als »Klanggärtner« möchte ich auf keinen Fall missen. An der Zukunft des Stadtklangs werden wir jedoch gemeinsam über alle Grenzen von Disziplinen und mächtigen Produktionsmustern hinweg zusammenarbeiten müssen und das Allerwichtigste, das für mich als Musiker eine sehr seriöse und weitreichende Bedeutung hat: Klangstadt entsteht durch Spielen. Ein »urban sound designer« oder »Stadtklangbaumeister« ist ein Musiker, der weiss wie man mit 100000 MitmusikerInnen zusammenspielen kann, zumindest so, dass immer mehr einander dabei zuzuhören beginnen. Spielen und Planen, ohne Spiel kein Plan. Ich bin Musiker, ich vertraue den Klängen, sie gehören weder mir noch irgend jemand anderem.
- »Stadthören, Klangspaziergänge durch Zürich«, NZZ libro, Zürich 2009 und »Klangraumgestaltung, Chancen im Lärm«, Lärminfo 17, Baudirektion des Kanton Zürich 2012 jeweils mit umfangreichen Glossar, Literaturangaben und CD ↩